Der Mini-Test von Mailand

Mit der Selbstauflösung des Stadtparlaments wollen Italiens Etablierte testen, welche Mehrheiten ihnen Neuwahlen bescheren würden/ Sechzig Festnahmen in drei Tagen  ■ Aus Rom Werner Raith

Die Prozedur ist den ItalienerInnen inzwischen hinreichend bekannt: Reihenweise werden in Nord und Süd, in großen wie in kleinen Städten mitunter gerade erst gewählte Gemeinderäte kurzerhand wieder aufgelöst, mal wegen mafioser Verbandelung von Dezernenten, mal wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl, mitunter auch, weil gleich der gesamte Stadtrat wegen Korruptionsverdachts in den Knast gerät. Dann setzt der Innenminister einen kommissarischen Ortschef bis zu Neuwahlen ein.

Mailand, Hauptstadt der Korruption mit mehr als tausend Einzelverfahren wegen Bestechung, Erpressung, Hehlerei und Verstoßes gegen das Parteienfinanzierungsgesetz, hat nun eine neue Variante zu den allfälligen Auflösungen hinzugefügt: Der Stadtrat hat sich selbst außer Kraft gesetzt. Nicht per Beschluß – sondern sozusagen mit den Füßen. Als vierzigster von achtzig Räten hat der bisherige, allerdings bereits zurückgetretene Bürgermeister Piero Borghini (einst Kommunist, dann Sozialist) sein Mandat zurückgegeben, wodurch die erlauchte Stadtväterversammlung auf Dauer beschlußunfähig wird. Als Kommissar ist vom Innenminister der Präfekt von Rom, Caruso, vorgesehen, gewählt wird im Juni.

Borghini selbst ist nicht von Ermittlungsverfahren betroffen, wie auch ein Großteil der zurückgetretenen Räte. Doch in Mailand traut keiner mehr dem anderen – kein Wunder, nachdem selbst gegen zwei ehemalige Bürgermeister ermittelt wird, den nachmaligen Tourismusminister Tognoli und den Schwager des inzwischen selbst von zehn Verfahren betroffenen bisherigen Sozialistenchefs Bettino Craxi, Pillitteri.

So scheinen Neuwahlen mit unverdächtigen Kandidaten auch den Menschen auf der Straße als der beste Ausweg aus der riesigen Vertrauenskrise, die nicht nur Mailand, sondern ganz Italien erschüttert: Kein Tag, fast keine Stunde, in der nicht neue Affären bekannt werden, neue Haftbefehle oder Anträge auf Aufhebung parlamentarischer Immunität in Rom einlaufen. Alleine in den letzten drei Tagen wurden sechzig Manager und Beamte festgenommen, darunter auch die Chefs der Staatsholding ENI und des staatlichen Straßenbauamtes ANAS.

Versuche der Regierung, die Sache mit einem Eildekret per Aufhebung strafrechtlicher Sanktion für Verstöße gegen das Parteienfinanzierungsgesetz aus der Welt zu schaffen, scheiterten am Aufschrei der Medien und schließlich an der Verweigerung der Gegenzeichnung durch den Staatspräsidenten. Umweltminister Ripa de Meana trat aus Protest gegen die Schwamm-darüber-Versuche zurück. Er wurde durch Valdo Spini ersetzt, der vor vier Wochen dem Gewerkschafter Giorgio Benvenuto bei der Wahl um die Nachfolge Bettino Craxis als PSI-Chef unterlegen war. Im Parlament begann am Mittwoch eine Debatte zur „Moral in der Politik“, zu deren Beginn es ein zwanzigminütiges Pfeifkonzert gegen Regierungschef Amato und seinen Justizminister Conso gab.

Allerdings ist die scheinbar saubermännische Selbstauflösung des Stadtparlaments in Mailand nicht nur der Absicht eines moralischen Neuanfangs zu danken, sondern auch rationalem Kalkül. Italiens Politiker wissen, daß sie Neuwahlen nicht weit über 1993 hinauszögern können, nachdem fast schon ein Viertel der erst 1992 gewählten Parlamentarier Verurteilungen fürchten muß. Im April finden mehrere Volkentscheide, unter anderem über das Wahlverfahren zum Parlament, statt. Nach dessen Änderung wird es spätestens im Herbst an die Urnen gehen.

So kommt der Mini-Test von Mailand vorab gerade recht: Die lombardische Metropole ist nicht nur Hauptstadt der Korruption, sondern auch Zentrum der oberitalienischen „Ligen“, jener Bewegungen, die mit massiven Polemiken gegen die Altparteien im Norden schon bis zu 40 Prozent der Stimmen erreicht haben. Einige Meinungsforschungsinstitute behaupten jedoch, daß die Bewegung vor allem wegen ihrer Forderung nach Auflösung des Zentralstaates zugunsten von drei allenfalls föderalistisch verbundenen Großregionen bereits wieder Wähler verliert. Mailand könnte darüber Aufschluß geben – und den Altparteien möglicherweise wieder etwas mehr Gelassenheit verschaffen.