Die Melancholie des Widerstands

■ Was wird aus Ruhrgebiet und Kohlenpott? Ein sentimentaler, vorläufiger Abgesang

Wer jemals im Ruhrgebiet war, hat einen Begriff davon, worum der dortige Überlebenskampf auch geführt wird. Es geht ja nicht allein um Kurzarbeit, Schichtabbau und Sozialprogramme: es geht ebenso um eine Lebenswelt. Wer jemals in einem Stahlwerk war und dieses gewalttätige Zusammenspiel aus Licht und Hitze, Lärm und Bewegung am eigenen Leib gespürt hat, dem ist dieser Verlust unmittelbar. Und wer den Unterschied zwischen den gelackten, paneuropäischen Arbeits- und Automobilzentren in Stuttgart wie München und Rheinhausen kennt, der weiß, daß es nicht nur ein Abschied von Arbeitsplätzen ist, der im Ruhrgebiet gefordert wird: es ist der Abschied von einer Kultur.

Diese Kultur hat viele Verankerungen: in den Familien, den Kneipen, der gesamten Sozialstruktur. In der oral history dieser Region, die in der Literatur der siebziger Jahre („Bottroper Protokolle“) eine einzigartige Rolle spielte. In den phantastischen Abgrenzungsstrategien, mit denen die Arbeiter und die Angestellten sich ihrer Rollen versicherten: mit Siedlungshäusern und Nutzgärten versus Etagenwohnung und Balkon, mit Alltagssprache versus Hochdeutsch, mit Bügelfalte versus Blaumann. In den zu engen Wohnzimmern, wo die Generationen, schon immer „im Stahl“ und unter Tage, schon immer bei Krupp, bei Hoesch, bei Thyssen, ihre Konflikte austrugen: mit dem Bier in der Hand, inihrer Sprache – dieser verschliffenen Einheit aus Dialekt und Aufstand gegen die Grammatik.

Als das deutsche Handwerk und die deutsche Bäuerlichkeit in Bedeutungslosigkeit und Subvention versanken, wurde wortreich Klage geführt. Wer schreibt, wenn es soweit ist, den Abgesang auf Pommes mit Majo, auf Eckkneipe und Taubenzucht, auf Kegelverein und Betriebsfußball? Wer schreibt die fällige Erinnerung an den Arbeiter unterm Helm, der morgens um fünf mit dem Fahrrad auf Schicht fuhr und dem Sohn am Pförtnerhäuschen begegnete, der von der Nachtschicht kam? Wer beschreibt noch einmal den Stolz, das Klassenbewußtsein der Stahlarbeiter, das sich aus all dem zusammensetzte (und selbst die Berufskrankheiten einschloß)? Wer macht noch einmal bewußt, daß hier, in der Stahlindustrie, Ausländer und Deutsche dauerhaft und nicht selten solidarisch zusammenarbeiteten? Wer erinnert daran, daß mit der „Freisetzung“ von Arbeitsplätzen, mit der Mobilität, die vom Individuum gefordert wird, auch eine der letzten regionalen Kulturen versinkt?

In vielleicht schon fünfzehn Jahren werden die ersten Omnibusse durch die „Standorte“ gekarrt. Mit Sentimentalität und jener Rührung, die der Verdrängung entspringt, werden vermutlich die Großväter ihren EnkelInnen erklären, daß die Taube mal das Rennpferd des kleinen Mannes war. Und „Schalke 04“ mehr als nur eine Fußballmannschaft.

Dem Abschied vom Stahlarbeiter ging ein kulturelles Festhalten voraus: Degenhardt und Schimmi, die „Protokolle der Arbeitswelt“, paradoxerweise sogar die Recherchen von Günther Wallraff als Türke Ali. Von einem leisen Servus kann im Ruhrgebiet noch nicht die Rede sein, aber der Untergang ist nicht aufzuhalten. Neue Arbeitsplätze gibt es erst, wenn die Arbeit in Aspik und Sülze beginnt: Das Bergbaumuseum in Bochum wird wohl ein Pendant in Rheinhausen bekommen. ES