Verwirrte Architektur des Selbst

■ Den Suchtprozeß durchschauen: Eßstörungen können lebensrettend und lebensgefährdend sein

: Eßstörungen können lebensrettend und lebensgefährdend sein

Es gibt keine eindeutigen Antworten. Eßstörungen haben für Forscherinnen, Therapeutinnen, Beraterinnen und auch Betroffene immer noch allerlei rätselhafte Dimensionen. Die Krankheit gibt es vermutlich schon seit langer Zeit, doch eine ihrer Ausprägungen — die Eß-Brechsucht (Bulimie) — wurde von Medizin und Psychotherapie erst zu Beginn der 80er Jahre „entdeckt“. Immer noch herrscht keine völlige Klarheit über die verschiedenen Formen der Eßstörungen, ihre Ursachen und die körperlichen Folgeerscheinungen.

Expertinnen schätzen, daß etwa 10 Prozent der weiblichen Bevölkerung in den westlichen Industriestaaten unter manifesten Eßstörungen leiden. Auch Männer sind nicht immun gegen diese Krankheit, doch höchstens ein Prozent der Herren- Population ist erkennbar betroffen — die Dunkelziffer dürfte erheblich sein.

Unter einer manifesten Eßstörungen wird ein Verhalten verstanden, daß sich über lange Zeiträume stabilisiert und schließlich zu psychischen und physischen Beeinträchtigungen führt. Die inzwischen schon fast klassischen Hauptformen sind:

-Die manifeste Eßsucht (Adipositas), die sich in permanenter Überernährung äußert. Das maßlose Essen dürfte die älteste und bekannteste Form eßgestörten Verhaltens sein. Die Adipositas ist die am wenigsten frauenspezifische Eßstörung. Aus verschiedenen Gründen „überfressen“ sich auch viele Männer unentwegt. Physische Schäden treten erst bei immensem Übergewicht auf, dann aber oft höchst bedrohlich. Schmerzhafter sind erst einmal die psychischen Beeinträchtigungen durch das Gefühl des ständigen Versagens vor den Essensbergen und die Selbstwahrnehmung: „Ich sehe nicht aus, wie es sich gehört.“

-Die Magersucht (Anorexia nervosa) ist dagegen viel stärker auf Frauen beschränkt. Sie beginnt meist in der Pubertät. In dieser Phase entwickeln betroffene Mädchen eine beinharte Selbstkontrolle, reduzieren ihre Nahrungsaufnahme auf wahnwitzige Winzigkeiten und führen dadurch eine derartig starke Gewichtsabnahme herbei, daß teilweise Lebensgefahr besteht. Die Anorexia nervosa erzeugt bei Angehörigen und Beraterinnen häufig ohnmächtige Hilflosigkeit, weil die Betroffenen meist jeden Leidensdruck und jede Beeinträchtigung leugnen. Sie haben nur ein einziges Ziel: immer dünner zu werden.

-Die Eß-Brechsucht (Bulimie) ist die rätselhafteste und am wenigsten erforschte Ausprägung der Eßstörungen. Die betroffenen Frauen (betroffene Männer gelten heutzutage noch als exotische Ausnahmen) sind eher normal- als untergewichtig, möchten schlanker werden, können jedoch ihre Nahrungsaufnahme nicht dauerhaft kontrollieren. Sie quälen sich durch einen ständigen Wechsel von Heißhungeranfällen und extremer Eßkontrolle. Während der Heißhungeranfälle werden kaum vorstellbare Mengen hineingeschlungen — und anschließend wieder erbrochen. Bulimie wird fast immer vor der Umwelt verheimlicht. Sie führt zu extremen körperlichen Schädigungen (kaputte Leber, Niere, Zähne; Kreislauf- und Herzbeschwerden, Magengeschwüre) und nicht selten zu schlimmer Verschuldung.

Neben diesen drei Hauptformen nennen die Beraterinnen der „Waage“ weitere Typen: Eßstörungen mit starkem Angst- beziehungsweise Phobiecharakter (Schluckängste, Vergiftungsphobien, Ekel, Angst vor dem Essen in der Gesellschaft); zwanghaftes Diäthalten; Mißbrauch von Abführmitteln, harntreibenden Mitteln und/oder Appetitzüglern. Dabei sind die Übergänge fließend. So kann die Diät als Einstiegsdroge für alle Eßstörungen bezeichnet werden. Jede Frau, die einmal per Diät ihr Eßverhalten unter heftige Kontrolle nahm, kann in den Suchtprozeß abrutschen.

Die „Waage“-Frauen schreiben in ihrem aktuellen Jahresbericht: „Allen Eßstörungen gemeinsam ist die zwanghafte Beschäftigung mit dem Essen, Diäten, der Figur, dem Gewicht — was häufig das gesamte Leben der Betroffenen psychisch und sozial schwer beeinträchtigt und schwere Gesundheitsschäden verursacht.“

Aber die Expertinnen aus der Schopstraße reduzieren Eßstörungen nicht auf das Essen: „Wir verstehen Eßstörungen als psycho-kulturelles Symptom von immer mehr und mehr Frauen, die gesellschaftliche und persönliche Widersprüche — in altbekannter weiblicher Weise — über ihren Körper austragen, dies um den Preis enormer sozialer und gesundheitlicher Schäden.“

Der Suchtprozeß — der wie bei jeder Abhängigkeitserkrankung als „ausweichendes Verhalten“ charakterisiert werden kann — läßt sich bildhaft beschreiben: Weil Frauen in besonderem Maße über ihr Äußeres definiert werden und sich folglich auch selbst zuallererst über ihr Äußeres bewerten, gehen sie mit Störungen vielerlei Art um, wie ein verwirrter Architekt. Wenn etwas in der Inneneinrichtung (der Psyche) nicht stimmig ist, wird das

1gesamte Haus (der Körper) umgebaut. Die unentwegten, anstrengenden Umbauarbeiten werden dann irgendwann zur zentralen Aufgabe — zum zentralen Problem.

Die Störungen des inneren Gleichgewichts sind dabei fast ausschließlich von außen herbeigeführt: Sexuelle Gewalt in und außerhalb der Familie, unerträglicher Anpassungsdruck an tradierte Rollen, die oft schwierige Identitätsfindung von Frauen zwischen gesellschaftlicher Unterdrückung und Emanzipation, zwischen Autonomie, Familie, Beruf und Partner-

1schaft. Derartige Belastungen lassen sich oft nur durch psychische Ausweichmanöver bewältigen.

Die „Waage“-Frauen setzen sich zusammen mit den Ratsuchenden auf die Spur der krankmachenden biographischen Situationen. Dabei versuchen sie ihren Klientinnen zu vermitteln: „Es gab einen Punkt in deinem Leben, an dem du dich nur mit süchtigem Essen, Hungern oder Erbrechen retten konntest. Aber jetzt ist eine andere Situation.“ Und nun kann die Kranke selbst entscheiden, ob sie essen, hungern oder kotzen will. Jürgen Oetting