Ein Erdbeben im Saal für Großrußland

Russischer Volksdeputiertenkongreß hält den eigenen Kompromiß mit Jelzin vom Dezember 1992 über das Referendum für verfassungswidrig/ Wo stecken die Zentristen?  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Die einen wollen ein großes Erdbeben, die anderen Großrußland“, beschrieb der zaristische Reformer Stolypin Anfang des Jahrhunderts den damaligen politischen Richtungskampf. Heute, bei der Sondersitzung des russischen Volksdeputiertenkongresses, haben sich die Dinge völlig verschoben. Diejenigen, die es nach einem Erdbeben gelüstet, haben immer auch Großrußland im Kopf. Und das umfaßt selbstverständlich alles innerhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion.

Schon die Rednerliste des Kongresses sprach für sich. Fast nur Vertreter der äußersten kommunistischen und nationalistischen Rechten hatten am ersten Tag Zugang zur Rednertribüne gefunden, obwohl sie am wenigsten zum eigentlichen Anliegen des Gesetzgebers zu sagen haben. Die parlamentarische Arbeitsgruppe schien die Redner mit äußerster Sorgfalt ausgewählt zu haben, um die Stimmung gleich richtig anzuheizen. Selbst der gemäßigte Block der Zentristen aus der „Bürgerunion“ um Vizepräsident Leander Rutskoi meldete sich kaum zu Wort.

Eigentlich hätte der Vorsitzende Ruslan Chasbulatow die Sitzung auch alleine abhalten können: „Lassen Sie die Hand unten, mir ist schon klar, was Sie sagen werden“, ermunterte er seine Volksvertreter. Und wenn sich mal einer aus dem demokratischen Lager meldete, wies er ihn auch sogleich in seine Schranken: „Abgeordneter Denisenko, ich möchte Sie doch bitten, wenn Sie irgendetwas wollen, lassen Sie das von einem anderen machen.“ Der Kongreß kämpft eben um die höchste Autorität. Die Sitzung des obersten Gesetzgebers folgte einem paradoxen Pfad. Eigentlich trat man zusammen, um über das Referendum präsidiales versus „parlamentisches“ System zu entscheiden. Doch dann änderte man die Tagesordnung und widerrief den Beschluß, den die Abgeordneten auf dem letzten Kongreß eigenhändig gefällt hatten. Der war erst durch die Vermittlung des Verfassungsgerichts zustandegekommen: Die Volksvertreter stimmten damals grundsätzlich einem Referendum zu, die Streitparteien einigten sich auf ein Stillhalteabkommen, Präsident Boris Jelzin behielt einen Teil seiner Sondervollmachten. In der Folge entledigte sich der Kongreß des ungeliebten Premierministers Jegor Gaidar und wählte den Kompromißkandidaten Viktor Tschernomyrdin ins Amt. Eigentlich, sollte man annehmen, ein brauchbarer Deal. Doch plötzlich fällt den Deputierten auf, daß ihr damaliges Verhalten nicht mit der Verfassung konform geht. Keiner setzte sie damals unter Druck.

Verantwortliche Gesetzgeber sollten die Konsequenzen einer Fehlentscheidung eigentlich auf die eigene Kappe nehmen. Statt dessen soll sich das Verfassungsgericht nun mit den Fehlleistungen nicht der Legislative, sondern – der Exekutive befassen. Doch die Regierung war nur der Vorgabe des Gesetzgebers gefolgt, der sie heute politischen Abenteurertums bezichtigt. Zugegeben: Verantwortung für die eigene Verantwortungslosigkeit zu übernehmen, ist schon fast ein Ding der Unmöglichkeit. Die verdorrte Konfrontation auf dem Kongreß, bedauerte die Nesawissimaja Gaseta treffend, ist „nicht mehr interessant und schon gar nicht mehr komisch“. Trotz allem gibt es noch Abgeordnete, die optimistisch in die Zukunft schauen. Für einen Deputierten lag der Hoffnungsfunke in der Gewißheit, daß eine knappe Mehrheit der Deputierten doch noch nicht schizophren sei. Offenkundig hat er den entscheidenden Block der Zentristen im Auge. Deren Gallionsfiguren haben sich in den letzten Tagen auffallend zurückgehalten. Wo sind die, die sich immer als das „Maß aller Dinge“ verkauft haben? Sollte sie begriffen haben, daß auch ihnen die verheißenden Antworten fehlen?