: Deserteure dürfen hoffen
■ Arbeitsministerium überprüft alle Urteile der Wehrmachtsjustiz
Bonn (taz) – Neue Hoffnung für Opfer der NS-Justiz: Sämtliche Anträge auf Entschädigung überprüft das Bundesarbeitsministerium aufs neue. Dies teilten Abgesandte von Norbert Blüm gestern dem Unterausschuß „Wiedergutmachung“ des Bundestages mit. Somit müssen die Opfer nicht mehr in Einzelverfahren um ihre Beschädigten- oder Hinterbliebenen-Rente kämpfen.
Generell wird das Bundesarbeitsministerium untersuchen, ob und wie Deserteuren der Wehrmacht und anderen Verurteilten der nationalsozialistischen Militärjustiz eine Wiedergutmachung zusteht, ebenso deren Witwen. Nicht nur Urteile, auch ablehnende Verwaltungsentscheide wird man erneut prüfen.
Wie aus der Mitteilung an den Ausschuß hervorging, nimmt die Behörde bereits seit Ende 1991 die Neubewertung vor. Damals hatte das Bundessozialgericht in Kassel in einer Entscheidung alle Urteile der nationalsozialistischen Militärrichter erstmals als „Terrorjustiz“ bewertet. Die Hinrichtung von 20.000 Deserteuren und „Wehrkraftzersetzern“ sei grundsätzlich als „rechtsstaatswidrige Entartung der Todesurteilspraxis“ zu betrachten, lautete die Gerichtsentscheidung.
Zuvor war nach tradierter Rechtsauffassung stets die „offensichtliche Rechtmäßigkeit“ der Urteile des Kriegsgerichts vermutet worden. Während so Witwen teilweise eine Hinterbliebenen- Rente zugesprochen worden war, wurden viele Anträge von Deserteuren auf Beschädigten-Rente kurioserweise abschlägig beschieden. Das Kasseler Bundessozialgericht kehrte die Beweislast um. Die NS-Urteile seien bis zum Beweis des Gegenteils als „offensichtliches Unrecht“ zu betrachten.
Siegfried Vergin, sozialdemokratisches Ausschußmitglied, äußerte sich „sehr zufrieden“ über die Revision. Nun hätten auch diejenigen wieder Grund zur Hoffnung, die bereits resigniert hätten. Dem Abgeordneten geht der Beschluß jedoch nicht weit genug. Wie andere Ausschußmitglieder fordert er eine offizielle Nichtigkeitserklärung oder Ächtung des Bundestages, was die Aufhebung der Urteile zur Folge hätte.
Auch das Kasseler Bundessozialgericht hatte in seiner Entscheidung an den Gesetzgeber die Aufforderung gerichtet, die Urteile der NS-Militärjustiz vergleichbar denen des Volksgerichtshofes zu brandmarken.
Wolfgang Lüder, für die FDP im Ausschuß, meint hingegen, durch die Überprüfung des Arbeitsministeriums sei die Ächtung bereits „hinreichend“ erfolgt. Ein entsprechender Bundestagsbeschluß sei nicht unbedingt vonnöten. Seine Befürchtung: das Finanzministerium, das die Entschädigungen zahlt, könnte die Hände so lange in den Schoß legen, bis dieser Parlamentsbeschluß gefaßt sei. Bernd Neubacher
Siehe auch Seite 11
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