Der Kongreß läßt den Bären tanzen

■ Boris Jelzin verließ Deputiertenkongreß/ Referendum verschoben/ Machtkonflikt ungelöst

Moskau (taz) – Demonstrativ packte Präsident Boris Jelzin seine Sachen und verließ den Sitzungssaal des Volksdeputiertenkongresses: Soeben hatte der Hinterbänkler Chelnakow den Rücktritt des Präsidenten gefordert.

Am zweiten Sitzungstag zeigte der Machtkampf des höchsten russischen Gesetzgebers keine Annäherung der Konfliktparteien. Zwar besteht keine unmittelbare Gefahr für Jelzins Präsidentschaft, doch stießen seine Vorschläge, einen Interessenausgleich mit der machthungrigen Legislative zu finden, gestern auf keinerlei Gegenliebe. Mit überwältigender Mehrheit verabschiedete der Kongreß schon am Morgen ein Papier, das den im Dezember mit dem Präsidenten eingegangenen Kompromiß widerrief. Die Legislative hatte sich darin verpflichtet, bis zum geplanten Referendum Veränderungen der derzeitigen Verfassung auszusetzen. Darüber hinaus erklärte sie sich bereit, das landesweite Plebiszit abzuhalten. Von dieser Entscheidung will der Gesetzgeber heute nichts mehr wissen. Lediglich zwei marginale Wünsche des Präsidenten wurden in das Papier aufgenommen, dessen vorläufige Fassung der Kongreß mit 672 zu 116 Stimmen (von insgesamt etwas über 1.000) verabschiedete. Repräsentanten der Regierung durften an der Sitzung nicht teilnehmen.

So demonstrativ Jelzin den Saal verließ, hatte er ihn am Vormittag zu seiner zwanzigminütigen Rede auch betreten. Der Reihenfolge nach begrüßte er den Verteidigungsminister, den Geheimdienstchef und seinen Innenminister – wohl um den Gerüchten neuen Auftrieb zu verleihen, im Falle einer Verweigerung könnte er zu anderen Maßnahmen greifen. Die Drohgebärde beeindruckte die Deputierten jedoch nicht. In seiner Rede griff Jelzin den Kongreß harsch an. Er warf ihm vor, jede Aussicht auf eine friedliche Beilegung des Streits zu zerstören. So unversöhnlich Jelzin auftrat, so schwach war am Ende seine Mission. Denn er räumte ein, das für April vorgesehene Referendum müsse wohl verschoben werden. Damit gestand er indirekt seine Schwäche ein.

Premierminister Viktor Tschernomyrdin unterstützte die Position Jelzins. „Heute ist es die starke Macht des Präsidenten, die der wirkliche Garant der Reformen ist.“ Andererseits gab er zu verstehen, daß die Regierung mehr sein müßte als ein „blasser Schatten des Präsidenten“. Tschernomyrdin war erst im Dezember vom Kongreß zum Premier gekürt worden. Er galt als Kompromißkandidat des zentristischen Blocks. Der Vorsitzende des Kongresses Chasbulatow trieb dann die Konfrontation auf die Spitze. Auf vulgäre Art beleidigte er die Regierung und forderte den Kongreß auf, den Privatisierungsminister Tschubais seines Amtes zu entheben. Beifall erntete er dafür von seinen Schutzbefohlenen. Allerdings besitzt das Parlament keine Handhabe, um den Minister zu entlassen. Das weiß auch Chasbulatow. Dessen Rücktritt forderten gestern die Jelzin unterstützenden Fraktionen Demokratisches Rußland und die Radikalen Demokraten. Petersburgs Bürgermeister Sobtschak warnte vor einem „national-sozialistischen Regime“ nach einem Sturz Jelzins. khd

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