Die Begriffsfreiheit

■ betr.: "Der Zeitgeist ist Anarchist", taz vom 6.2.93, "Tarif-Anarchie", taz vom 23.2.93, "Eine g'scheite Arnarchie braucht einen starken Anarchen", taz vom 25.2.93

betr.: „Der Zeitgeist ist Anarchist“, taz vom 6.2.93,

„Tarif-Anarchie“, taz vom 23.2.93, „Eine g'scheite Anarchie braucht einen starken Anarchen“,

taz vom 25.2.93

Anarchie ist, das weiß die breite Öffentlichkeit, nichts als Chaos und Gewalt. Und damit dieses „Wissen“ nicht verlorengeht, gibt auch die taz inzwischen ihr Bestes im Sinne der bürgerlichen Pressetradition und verkündet die langgehegte und trotzdem bloß vermeintliche Wahrheit über diesen Begriff schon in den Überschriften. Da braucht plötzlich „eine g'scheite Anarchie“, nämlich der Freistaat Bayern, „einen starken Anarchen“, den Konzernfreund Streibl, weil sich halt das Wortspiel mit der Farbe Schwarz so unumgänglich aufdrängt. Daß die schwarzen Fahnen der Anarchie immer gegen die Kapitalinteressen und die Korruption der politischen Klasse wehten, wird ganz einfach zur historischen Irrelevanz, weil die Vorstellung von alteingesessenen CSU-WählerInnen als „AnarchistInnen“ ja so witzig ist.

Eine anarchistische ArbeiterInnenbewegung hat es auch gegeben, sogar in Deutschland. „Tarif- Anarchie“, befürchtet der taz- Kommentator und meint damit nicht etwa selbstverwaltete Betriebe oder Initiativen, die sich gegen die sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftspolitik wenden, sondern – wie könnte es anders sein – das bevorstehende Chaos im tarifvertraglosen Osten des Landes. „Politische Phantasie“ sei gefragt, um „Wildwest-Methoden der Arbeitgeber“ abzuwenden. „Gegenseitige Hilfe“ heißt eines der anarchistischen Prinzipien, die wohl nur in Vergessenheit geraten konnten, weil Kropotkin schon so lange tot ist und es keine TV-Serien oder Hollywood-Klassiker über die Libertären und deren phantasievolles Politikverständnis gibt.

Und Antje Vollmer sieht die personifizierte Gemeinheit in jenem schwarzgekleideten, zottelbärtigen Typen mit der bowlingkugelförmigen Bombe unterm Arm vor sich. „Der Zeitgeist ist Anarchist“ behauptet sie, weil das deutsche Feuilleton und die Kulturszene Christa Wolf zerfleischen und Heiner Müller schonen. Den Zusammenhang von Kunst, Kultur und Anarchie hat schon vor einigen Jahrzehnten der englische Kunsthistoriker Herbert Read dargestellt, und zwar bezogen auf die Wiederaneignung von Vitalität und Spontaneität gegen die tödliche Starre des technologischen Zeitalters und nicht als reißerisch- platte Schlagzeile.

Es scheint, als spielte auch die taz jenes rassistische Kinderspielchen „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ und gehe der allzu radikalen Auseinandersetzung aus dem Wege. Vor gar nicht allzu langer Zeit blühte auf der taz- Wiese die Vokabel der Herrschaftslosigkeit noch als ernstgemeinte Rubrik, und selbst Berichte über AnarchistInnen (zum Beispiel zur ArbeiterInnen-Olympiade 1936 in Barcelona) sprengten nicht den linksalternativen Rahmen. Aber die Ansprüche ändern sich da wohl ebenso wie die Zeiten... [...] Das Gespenst der Freiheit tobt, der Zeitgeist ist ein Arschloch, und: Anarchie ist Freiheit! Jens Kastner, Senden