Kein Fortschritt für Erntemeister

Die Beschäftigten des Landmaschinenkombinats „Fortschritt“ fürchten das Aus für Mähdrescher/ Teil 3 der taz-Serie zu industriellen Kernen  ■ Aus Singwitz Detlef Krell

Feiertägliche Ruhe liegt über dem Mähdrescherwerk Singwitz. Kaum ein Mensch ist zu sehen, und zu hören nur das Knacken der Eiszapfen, die sich unter der Mittagssonne bedrohlich von den Dächern lösen. Mähdrescher mit Schneehäubchen stehen am Hang, als hätten sie eine Demo verschlafen.

Doch zu feiern gibt es nichts in dem Industriedorf bei Bautzen. Und kürzlich, als die 550 Mähdrescherwerker für die Zukunft ihres Betriebes demonstrierten, hatten sie vier Mähdrescher mitgenommen. Von dem Riesenstau im Bautzener Stadtzentrum erzählen Autofahrer mit Schaudern.

Nur noch der Betriebsrat ist im Werk, die Belegschaft arbeitet kurz. Die Stimmung kocht. Während der Betriebsratsvorsitzende die Situation schildert, muß er durchs Büro tigern. Auf seinem Stuhl hält er es nur für Sekunden aus.

Die Mähdrescherwerke Singwitz waren ein Betrieb des Kombinates „Fortschritt“-Landmaschinen in Neustadt/Sachsen. Im Juli 1990 löste sich das Kombinat auf, beide Teile gingen an die Treuhand. Jeder blieb bei seiner Spezialstrecke; Singwitz baut Mähdrescher, in Neustadt werden Futtererntemaschinen, Ballenpressen und andere Geräte produziert. Der wichtigste Markt für die Neustädter sind die GUS-Staaten. 90,3 Prozent des Umsatzes mit Landmaschinen in den neuen Bundesländern wurden 1991 mit GUS-Ländern abgewickelt.

Singwitz dagegen setzte zwei Drittel seiner 92er-Produktion auf dem deutschen Markt um und konnte ein Drittel des Marktanteils in den neuen Bundesländern halten. Tiefblaue „Erntemeister“ bringen auch in Frankreich, Schweden und Dänemark das Getreide ein. Nur 4,4 Prozent des Umsatzes realisierte das Werk in den Ländern der GUS. Gute Chancen schon für die nächste Saison rechnet es sich auf dem tschechischen und slowakischen Markt aus, wo ihre Marke seit „Fortschritt“-Zeiten auf allen Feldern zu Hause ist. „In jedem Dorf findest du jemanden, der unsere Maschinen reparieren kann“, erklärt der Betriebsrat die Gewißheit der Singwitzer, daß sich dieser Markt, „wenn erst mal der DM-Schock überwunden ist“, wieder öffnen werde. Von den einstigen LPG-Bauern im deutschen Osten ganz zu schweigen. „Die sagen mir: Prima, daß es euch noch gibt, da kaufen wir doch bei euch ein.“

Keine Frage, daß beiden Betrieben eine gemeinsame Strategie auf dem Markt förderlich wäre. Nicht darüber regt sich der Betriebsrat auf, wenn er der Treuhand vorwirft, „zwei Kranke zusammen ins Bett zu legen und sich vom Ableben des einen das Genesen des anderen zu erhoffen“.

Noch im April 1992 habe die Treuhand dem Betrieb eine „markt- und konkurrenzfähige Produktion“ attestiert. „Und nichts dafür getan“, regt sich Lutz Regett auf. „Nicht eine einzige müde Mark ist hier für Investitionen angekommen.“ In Neustadt wurden 30 Millionen investiert. Seiner Auffassung nach eine politische Entscheidung: Der Handel mit GUS-Staaten wird über Hermes-Kredite finanziert, in die anderen ehemaligen RGW-Länder fließen diese Gelder wesentlich zäher.

Derart trockengestellt, schaffte es Singwitz dennoch, mit einer Neuentwicklung aufzuwarten. Der Erntemeister 525 „läuft wie ein Bienchen“ und bringt 20 Prozent mehr Leistung, erzählt er stolz. „Den haben wir uns vom Mund abgespart! Mit Kurzarbeit für die Produktionsarbeiter, damit die Entwicklung arbeiten konnte.“ Auf den Reißbrettern lag schon der „527“, er mußte zurück in die Schubladen.

Jetzt erklärte die Treuhand in ihrem Restrukturierungsprogramm die Absicht, beide Betriebe zusammenzufassen und im Paket zu privatisieren. Singwitz solle seine Liquiditätsmittel nur über Neustadt empfangen, Finalproduktion sei nur noch für Neustadt vorgesehen. Vorstand und Betriebsrat des Singwitzer Unternehmens teilten daraufhin mit, dieses Konzept „nicht nachvollziehen“ zu können. Erste Konsequenz war, daß der Vorstandsvorsitzende zurücktrat. Betriebsrat Regett warf der Treuhand schriftlich vor, den „Liquiditätstod“ herbeizuführen.

Die Mähdrescherwerker wollen auf dem Markt nicht am staatlichen Tropf überwintern, stellt Regett klar. Die Umsatzprognosen für 1992/93 versprechen etwa eine Verdoppelung gegenüber 1991/92. Die Auftragslage lasse die Voraussicht zu, daß in dieser Erntesaison die Verluste gegenüber Geschäftsbeginn 1990 auf etwa ein Siebentel reduziert werden können. „Würde man korrekt nachweisen, daß unser Produkt nichts taugt, müßten wir das wohl akzeptieren“, erklärt er, „aber diese Scheißproduktion ist offenbar so gut, daß es sich lohnt, sie für Millionenkosten 30 Kilometer zu verlagern.“

Nichts, gar nichts wäre aus der Sicht der Mähdrescherwerker damit gewonnen. „Die Maschinen könnten doch auch nicht anders verkauft werden als jetzt.“ Angeblich habe ein Investor aber ausdrücklich gewünscht, „die beiden Werke so vorzufinden“, zitiert Regett die Treuhand.

Zwei Begriffe gehen seitdem im Werk um: Bischofswerda und Lauta. Betriebsratsmitglied Axel Steyer erinnert daran, daß es im Mähdrescherwerk Bischofswerda zunächst auch erst hieß: Einzelteile produzieren. „Dann wurde es dichtgemacht.“ In Lauta wollte die Münchener Sommer Recycling GmbH den größten Recyclingpark Europas einrichten. Erst als die 160 ArbeitnehmerInnen drei Monate lang keinen Lohn erhalten hatten, platzte das bayerische Windei. Firmenabsenker in den alten Ländern waren reihenweise in Konkurs gegangen, obskure Geschäfte verknoteten die Vermögenslage, die Treuhand hat nun alle juristische Mühe, die Rückgabe der Lautaer Immobilien durchzusetzen. Immerhin gebe es inzwischen neues Interesse von potentiellen Investoren, verlautet dieser Tage der letzte Schrei aus Lauta.

„Wir wollen kein zweites Lauta“, das ist inzwischen geflügeltes Wort auch in Singwitz. Verfahren genug ist die Kiste bereits jetzt. Schon die Absichtserklärung der Treuhand habe sich auf das Verhalten der Kunden ausgewirkt. „Beide Unternehmen befinden sich mitten in Innovationsprozessen, kurz vor der Saison, und das alles mit dem schlechten Image des Treuhandbetriebes.“ Zudem würden nun auch noch „die Belegschaften aufeinandergehetzt“, bedauert Regett eine Tendenz, „die weder wir noch die Neustädter wollen“. Was sich jetzt zwischen diesen beiden Orten am Rande der Lausitz und der Sächsischen Schweiz abspiele, sei „die Ost- West-Vereinigung auf betrieblicher Ebene“. Singwitz werde als „Strohhalm“ für Neustadt angesehen.

So waren die Singwitzer auch vergangene Woche in Bautzen dabei, als 9.000 MetallerInnen für die Einhaltung der Tarifverträge auf die Straße gingen. „Unser Beispiel zeigt doch wieder einmal, daß der Zusammenbruch von Firmen nicht direkt etwas mit den Löhnen der Beschäftigten zu tun hat“, gibt Regett zu bedenken. Wünschen würde er sich eine „gemeinsame Demo beider Betriebe. Aber dafür ist es schon zu spät.“

Eine plausible Erklärung, warum die Treuhand für Singwitz die Flinte ins Korn wirft, hat hier niemand. Einziger Anhaltspunkt sei das Bestreben einiger westdeutscher Firmen, dort Fuß zu fassen, wo die Erntemeister bisher den besten Stand hatten: in den neuen Bundesländern und auf dem Markt östlich von Neiße und Elbe.

Ganz anders beurteilt die Neustädter Geschäftsführung die Lage. Mindestens 1.200 Mähdrescher müsse ein Unternehmen jährlich verkaufen, um wirtschaftlich arbeiten zu können, heißt es dort. Davon freilich ist Singwitz weit entfernt. Zugleich erklärt ein Mitarbeiter der Geschäftsführung, der nicht namentlich genannt sein will, gegenüber der taz, daß „wir in Neustadt in der Lage sind, Mähdrescher zu produzieren“. Den Singwitzern wirft er vor, „die Standortfrage gegenüber den betriebswirtschaftlichen Tatsachen zu sehr in den Vordergrund gestellt“ zu haben. Wie viele „Blaue“ in der nächsten Saison von Sachsen aus ins Korn fahren werden, sei jedoch nicht spruchreif.

Singwitz und Neustadt, das sind zwei industrielle Kerne in einer Region, die sonst nur noch von kläglichen Dienstleistungen lebt. Mehr als 1.000 Arbeitsplätze in Zuliefererbetrieben hängen von den Mähdreschern ab. Dieser Tage laufen Verhandlungen zwischen der Treuhand und dem Wirtschaftsministerium über eine Aufnahme beider Unternehmen in den Katalog der „Atlas“-Betriebe. Jener Treuhandbetriebe also, die vom Land Sachsen ausgewählt und zur Sanierung angemeldet werden, was zur Folge hätte, daß Singwitz auf der Basis eines Sanierungskonzeptes Investitionsmittel erhielte. Wie diese Konstruktion genau aussehen wird, ist bisher ungeklärt. Das Wirtschaftsministerium hält sich, solange die Verhandlungen laufen, bedeckt.