■ Ökolumne
: Ohren ab Von Sebastian Pflugbeil

„Haltet die Bevölkerung im unklaren!“ (Eisenhower) Dieser Appell des damaligen Amerikanischen Präsidenten stand nicht nur Pate beim Übergang von der militärischen zur sogenannten friedlichen Nutzung der Kernenergie, dieser Appell war ungeschriebene, aber akzeptierte Dienstanweisung für Legionen von Militärs, Technikern, Wissenschaftlern und Ärzten in allen kernenergienutzenden Staaten weltweit. Die Geschichte der Kernspaltung ist eine Geschichte von Lügen gutinformierter und gutbezahlter Fachleute und Politiker gegenüber schlecht oder gar nicht informierten Menschen, die geschädigt oder umgebracht wurden, ohne zu wissen, von wem und wofür.

Wissenschaftler, die versuchten, die Wahrheit herauszufinden, wurden diskriminiert, verloren oft ihren Job und gelten bis heute bestenfalls als Außenseiter. Sie werden so vollständig wie möglich draußen gehalten, wenn es um Grenzwerte geht, wenn die Folgen von Katastrophen untersucht werden oder wenn es um eine lebenswerte Zukunft geht. Es ist eine Provokation für mündige Bürger, diesem ungleichen Kampf zuzuschauen – was liegt näher als sich zu überlegen, wie man dafür sorgen kann, daß die „Experten“, wie sie sich gern nennen, zweimal überlegen, bevor sie sich durch Karrierechancen, Bargeld, politische Streicheleinheiten, Kongreß- oder Studienreisen oder satte Forschungsbudgets kaufen lassen und dafür Risiken herunterbegutachten, Schäden ignorieren, dafür sorgen, daß keine Panik unter der Bevölkerung ausbricht.

„Meine Hand für mein Produkt“ war eigentlich ein brauchbarer unter den meist unsinnigen Slogans aus der DDR-Zeit. Ich denke dabei schon seit langer Zeit an das Islamische Recht und an die Atomwirtschaft – friedlich oder nicht friedlich. Was spricht dagegen, einem Experten, der mit viel Geld in der Umgebung von Tschernobyl zu dem Ergebnis kommt, „die untersuchten Kinder waren generell gesund“, den Daumen der rechten Hand soweit zu kürzen, daß er bei der Unterschrift unter das nächste Gutachten an diese Lüge erinnert wird und an den Zeigefinger denkt. Die Entsorgung der vielen Finger ist zwar ein Problem, man wird sicher auch bald auf Ohren, Nase und was sonst noch vorsteht zurückgreifen müssen – all das erscheint jedoch vergleichsweise lösbar. Es hätte den großen Vorteil, daß man kein aufwendiges Quellenstudien mehr treiben muß, um die Glaubwürdigkeit eines Experten zu prüfen – man muß ihm nur die Hand schütteln. Es wäre dann sinnvoll, für wichtige Gremien eine Mindestanzahl von Nasen gesetzlich vorzuschreiben, auch wenn das zu persönlichen Härten führen sollte.

Brecht hat in seinem „Leben des Galileo Galilei“ den schönen Satz untergebracht: „Wer die Wahrheit nicht weiß, ist ein Dummkopf. Aber wer sie kennt und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“ Das ist der Punkt – wir schreien zu Recht auf, wenn unser Nachbar sein Kind mißhandelt (hoffentlich), wir zucken aber eigenartigerweise davor zurück, Lügen, die viele Kinder, Erwachsene, Pflanzen und Tiere krank machen oder gar umbringen, als Verbrechen zu bezeichnen.

Noch schwerer fällt es uns, die Lügner als das zu bezeichnen, was sie sind – als Verbrecher. Es liegt auf der Hand, daß das Strafrecht in diesem Bereich erheblich verbesserungsbedürftig ist. Das wäre aber machbar, wenn wir nur erreichten, daß eines verstanden wird: „Experten“ sind keine fehlerlosen Computer, sie sind vielmehr Menschen mit Vorurteilen, die nur sorgfältiger als du und ich über ihr Fortkommen nachdenken, denen es schwerer fällt, eine publizierte oder jahrelang gelehrte Auffassung zu revidieren, als einer Fischfrau ihren Heringspreis. Menschen, die auch gerne gut leben und die durch ihre Spezialisierung extrem abhängig davon sind, den Job zu behalten, den sie einmal haben – man kann sie nur selten zu etwas Vernünftigem gebrauchen. Das alles wäre nicht so schlimm – es geht uns ja so viel anders nicht. Schlimm wird es, wenn sie uns weismachen wollen, daß sie dafür zuständig seien, über unsere Gesundheit zu befinden, wenn sie versuchen, mit weißen Kitteln und steifen Kragen bei uns eine mittelalterlich abergläubisch-ehrfurchtsvolle Maulstarre auszulösen – in der wir schlecht zubeißen können, das ist ja Sinn des Mummenschanzes. Reichen wir uns die Hand – noch alles dran?

Dr. Sebastian Pflugbeil sitzt für das Neue Forum im Berliner Abgeordnetenhaus und ist Sprecher des „Kinder von Tschernobyl e.V.“