Tragik satt auf Platt

■ Premiere bei Waldaus: Die Geschichte einer Taubstummen / „Jonny Belinda“

Ein idyllischer Dorfplatz. Blumenkästen mit Geranien, Kirchtürme. Dorfalltag. Menschen treffen sich, erzählen, tratschen und flüstern. Szenenwechsel: Wir befinden uns in der Mühle von Karl Prüss. Grober Putz, Treppe und Holztüren von Alter und Arbeit gekennzeichnet. Oben auf dem Speicher arbeitet ein spindeldürres barfüßiges Wesen, in braunes Sackleinen gehüllt. Das ist Belinda, die taubstunmme Tochter des Müllers, ein Aschenputtel. Der Müller ist jähzornig und treibt sie an wie einen Esel.

Da stimmt zunächst alles: Die Atmosphähre des bodenständigen Bühnenbildes, der poltrige, verbitterte Müller mit seinen schweren Stiefeln (Jochen Altenburg), die abweisend-verängstigt dreinschauende und motorisch verkümmerte Tochter (Heidi Jürgens), der etwas naive junge Doktor (Kurt Erfurt), der sich ihrer annimmt und ihr die Taubstummensprache beibringt.

Nun bietet eine Kaspar-Hauser-Geschichte, nämlich wie ein völlig unerzogener Mensch zum sozialen Wesen wird, genug Stoff für einen 1000-Seiten-Roman. Die taubstumme Belinda verändert sich aber auf der Bühne recht schnell vom scheuen, wilden Tier zur anmutigen, jungen Frau — was nur mit viel gutem Willen nachzuvollziegen ist. Rührende und dramatsiche Szenen wechseln Schlag auf Schlag — die dick aufgetragene Tragik verfehlt aber schließlich nicht ihre Wirkung. Sogar männliche Zuschauer tupfen hinter den Brillen. Was ist geschehen? Ein junger Mann aus dem Dorf vergewaltigt Belinda. Niemand erfährt davon, aber die Taubstumme wird schwanger. Der Vergewaltiger, Fritz Doormann (Bernhard A. Wessels) hat inzwischen geheiratet, seine Ehe bleibt kinderlos. Da besinnt er sich seines neugeboreren Sohnes Jonny. Mit Unterstützung der Dorffrauen, die für die christliche Moral kämpfen, erreicht er die Adoption, ohne seine Vaterschaft zu offenbaren. Nur seiner eigenen Frau, die aus Mitleid Belinda das Kind lassen will, offenbart er im Streit die Wahrheit.

Als er das Kind holen will, erschießt Belinda ihn mit dem Schrotgewehr, wird aber freigesprochen, und erhält ihr Kind zurück: die Frau des Vergewaltigers hat sagt vor Gericht zu ihren Gunsten aus.

Wahrscheinlich wäre die Rührgeschichte auf Hochdeutsch weniger gut auszuhalten. Das Niederdeutsche schafft gleichzeitig Distanz und Glaubwürdigkeit. Die Hauptfiguren stellen ihre Charaktere und die zu vielen tragischene Höhepunkte überzeugend und letztlich ohne zu übertreiben dar. Der Arzt und die Stumme praktizieren eine Zeichensprache, als hätten sie sich ihr Leben lang nicht anders verständigt.

Überzogenheiten sind wohldosiert und dienen durchaus der punktuellen Erheiterung. Da wären die Wärterinnen der sauberen Moral zu nennen (Gudrun lnage und Imke Bahr), die mit heruntergezogenen Mundwinkeln und wichtigtuerisch erhobenen Augenbrauen den weichen Pastor, der zu Tugend und Moral eine flexible Meinung hat, auf ihre Seite ziehen. Nicht zu vergessen die mißmutige Tante Grete (Ingeborg Heydorn), deren verhaltenes Vor- sich-hin-Schimpfen etliche Lacher auslöst. Besonders hervorzuheben ist die Leistung von Heidi Jürgens, die die schwierige Aufgabe hat, sich über zwei Stunden auf der Bühne in den Mittelpunkt zu stellen, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Daß Autor Elmar Harris bei all der Tragik überflüssigerweise zuerst den Müller verarmen und dann noch tödlich verunglücken läßt, dafür können die Schauspieler nichts. Das Publikum reagierte am Premierenabend mit ellenlangem Applaus und Fußtrampeln.

Beate Ramm