Selbstmord an Goethe

■ Und der Sozialpädagogische Realismus lebt in Ewigkeit: Inge Andersen hat Goethes „Stella“ im Schauspielhaus inszeniert

Wenn es eine Gerechtigkeit gibt hienieden, und wirklich spricht vieles dafür, dann ist Inge Andersen bereits auf ewig in eine Goethebüste verwandelt worden zur Strafe für den ruchlosen Flachsinn, der am Samstag das Schauspielhaus wanken gemacht hat. Inge Andersen, sowas wie die neue Hausregisseurin im Schauspielhaus, hat nämlich Goethes „Stella“ von den drei Hauptdarstellern aufs Einfältigste verquasen lassen; ja sie hat das ganze Stück, immerhin eins mit teuren Einsichten, verramscht wie ein Mängelexemplar von Psychoratgeber für Beziehungsklimbim und Scheidungswaisentum. Und als wär das nicht genug, hat sie den Goethestoff um die eigenen Erkenntnisse vermehrt, daß erstens der Mann leider ein brunzdummer Sauhammel ist, daß zweitens noch trotteliger nur sein verlassnes Weib ist, weil's auch noch klappert vor Pathos, und daß drittens die wahre Liebe bei den Blumenmäderln daheim ist, was alles Goethe freilich noch nicht wissen konnte.

Das Unterfangen endigte am Samstag in der verdienten Peinlichkeit; schade nur um die Schauspieler. Um ihrer armen Seelen willen, die wohl am wenigsten dafür können, sage ich, bevor ich sage, wie es war, wie es hätte sein können: Goethe läßt in „Stella“ vier Menschenskinder aufeinanderrumpeln, die allerhand von dem Gewerkel miteinander abzumachen haben, welches man vordem als „die Liebe“ besang: den Mann Fernando, seine Geliebte Stella und sein verlassnes Eheweib Cäcilie samt Tochter Lucie.

Da ist nun gar nichts Großes dran, wie sie sich plagen müssen, ihrer aller Geschichten so halbwegs hinzukriegen und hinzubiegen. Und gerade das ist die Stärke des Stücks: Daß es die Arbeit des Hinbiegens feiert, wenngleich es bis in die eigene Dramaturgie hinein von der Ratlosigkeit zerfressen ist, was anzufangen sei mit der Liebe. Goethe hat in der ersten Fassung der „Stella“, die er 1775 als 26jähriger schrieb, den kühnen Ausweg in eine Dreierehe eingeschlagen. 1806, gut dreißig Jahre später, machte er dem Stück einen neuen Schluß: Da bereinigen Fernando und Stella die Malaise per Selbstmord.

Inge Andersen hat sich für die erste Variante entschieden, die heute wieder besser geht; aber ach, sie mußte, statt die Liebeshändel ordentlich zuzuspitzen für unsre Belange, das Treiben als sowas von verlogen auch noch restlos enttarnen: Da ist also Matthias Redlhammer als Fernando ein täppischer Depp geworden, und damit wir's nur ja auch merken, muß er alleweil herumsülzen und einen Hackstock von Liebhaber spielen, so wie es etwa der unvergessene Wim Thoelke wohl getan hätte: also mit viel Barmen und billigem Augenrollen; ja, so schrecklich ward von der Regisseurin der Mann entlarvt, daß wir sie sogleich komplett durchschauten. Zum Glück wird ihr pseudofeministisches Abgreifertum schon dadurch quittiert, daß es nicht hinhaut, und zwar aus zwei Gründen: Erstens wird der passabelste Schauspieler, wenn er grad extra einen schrecklich schlechten Schauspieler abgeben soll, auch das noch schlecht machen. Zweitens rentiert sich die Vertrottelung, welche Andersen an Fernando verübt, für die beiden Frauenspersonen am allerwenigsten: Sie sind, wenn sie sich je mit einem solchen Kümmerling von Affenarsch eingelassen haben, mit ihrem Unglück noch gar nicht genug bedient.

Aber Inge Andersen tut schon einiges, damit wir auch das noch annehmen: Ursula Andermatt muß, als steinern Verhärmte, immerzu das Kinn wider das Männertum recken, und Marion Reuter als Stella muß, wie Naturkinder tun, vögeleingleich über die Bühne flattern und von Liebe tschilpen.

Ja, die Regisseurin hat, von Goethe ganz unbeeindruckt, ihre Absichten mit solchen Spottgestalten illustriert; ja, sie sind gemalt in der schaurigen Tradition des Sozialpädagogischen Realismus und scheuen nicht das schreiendste Klischee; nein, das darf man mit ernsthaften Schauspielern nicht anstellen, und wenn, dann wenigstens konsequent. Hier aber müssen sie das eine und plötzlich schon wieder das andre, müssen lospreschen und abbremsen, müssen maulen und in Emphase verfallen, je nach den unerforschlichen Bezweckungen der Regisseurin, und haben in lauter Hü und Hott keine Chance, auch nur rauszukriegen, wo ihnen der Kopf steht.

Und auf dies alles gleißt in stoischer Unabänderlichkeit immer das gleiche Licht hernieder, als gäbe es selbst im Theater keinen Wandel mehr; und überhaupt ist das ganze Bühnenbild von Birgit Angele eine Stätte der Ermattung: Der Hintergrund ist quasi aus einem haushohen Schuhkarton ausgerissen; auf der schrägen Bühne lungern Sitzelemente, auf denen, genau, „Amore“ geschrieben steht; oberhalb hängt auch noch, is eh schon wurscht, ein Riesenstück bunter Pappe; und am Ende, als ungelogen durch das dafür vorgesehene Loch im Schuhkarton eine riesenhafte graue Komturenhand nach der armen Stella griff, da hörte ich endlich, durch den klammen Schlußapplaus, den alten Goethe von Herzen lachen, weil halt die Leute, wie Karl Kraus mal gesagt hat, nicht aufhören, Selbstmord an ihm zu begehen. Manfred Dworschak

Nachschrift: Für die Proben zu diesem Supersparpreisstück war das Schauspielhaus gleich wieder zwei Wochen lang geschlossen. Jetzt ist es auf und dafür wohl bald wieder leer: Sensationelle 25 Vorstellungen sind, weil Heyme einfach nichts andres mehr zu spielen hat, für „Stella“ angesetzt; fragt sich aber, ob morgen überhaupt noch wer reingeht. Kann man nicht Kino machen stattdessen?