Der Jubel von Barcelona gibt Kraft

■ Gesichter der Großstadt: Marianne Buggenhagen ist vierfache Olympiasiegerin bei den Paralympics / Olympia als Chance für ein behindertengerechtes Berlin

Berlin. Manchmal, wenn Marianne Buggenhagen keine rechte Lust verspürt, sich zum Training aufzumachen, sorgt eine kleine Flucht in die Vergangenheit für neue Motivation. Dann versetzt sie sich ein gutes halbes Jahr zurück, ins Olympiastadion nach Barcelona. Die Sonne scheint, Tausende von Zuschauern jubeln auf der Tribüne, und unten im Stadion wirft Marianne Buggenhagen die Kugel weiter als alle Konkurrentinnen, den Diskus auch, den Speer sogar weiter als jede andere zuvor: 19 Meter und 34 Zentimeter, Weltrekord für Rollstuhlfahrer.

Vier Goldmedaillen hat die Sportlerin aus Berlin-Buch insgesamt gewonnen bei den Paralympics, den Olympischen Spielen der Behinderten. Die sind längst im Schrank verschwunden, die Atmosphäre ist dagegen noch immer präsent: Echt sei die Begeisterung bei den Leuten gewesen, sagt sie, nicht gespeist von Mitleid mit den wackeren Behinderten: „Die Zuschauer wollten Sport sehen, Leistungssport. Und den haben wir gezeigt.“ Ihren Tagesablauf hatte Marianne Buggenhagen ganz auf das Ziel Olympia abgestimmt. In ihrer Arbeitsstelle – sie ist Krankenschwester in der Rehabilitationsklinik Buch – schob sie ein halbes Jahr Dauerdienst, mit Spätschicht und Wochenende, um danach ein halbes Jahr freinehmen zu können für das Training.

Sport, sagt sie, habe sie schon immer begeistert getrieben, schon vor jenem Tag im Jahr 1972, seit dem sie ihr Leben in „davor“ und „danach“ einteilt. An jenem Tag wird Marianne Buggenhagen, 19 Jahre alt und Leistungssportlerin mit Ambitionen, an der Bandscheibe operiert. Der Eingriff mißlingt, die junge Frau muß sich damit abfinden, daß sie ihre Beine nie wieder wird bewegen können. Querschnittslähmung. Zwei Jahre wird sie brauchen, um den Schock zu überwinden, Freunde werden ihr helfen, Psychologen. Ärzten kann sie erst wieder unbefangen gegenübertreten, seitdem sie sich mit einer Chirurgin angefreundet hat: „In der ersten Zeit nach der Operation ist mir schlecht geworden, wenn ich einen weißen Kittel nur gesehen habe.“

Nach vier Jahren Pause beginnt sie, im Rollstuhl zu trainieren. Die körperlichen Voraussetzungen – sie mißt 1,90 Meter – sind optimal; Marianne Buggenhagen wird DDR-Meisterin in der Leichtathletik, im Tischtennis, im Basketball. Nach der Wende wird vieles schwerer für sie; Reise- und Hotelkosten muß sie jetzt selbst tragen. Einiges auch verbessert sich: Endlich darf sie sich im Ausland mit anderen Sportlern messen.

Die Wundertaten von Barcelona haben sie bekanntgemacht: Als eine Berliner Zeitung ihre Leser zur Wahl der Sportler des Jahres aufrief, erhielt nur Schwimmwunder Franzi van Almsick mehr Stimmen. Auch zur Olympiabotschafterin ist sie ernannt worden. Sie hat die Aufgabe gern übernommen. Wenn Berlin die Zuschlag erhält, glaubt Marianne Buggenhagen, „werden sie alles behindertengerecht ausbauen in der Stadt“. Ob es dazu unbedingt Olympischer Spiele bedürfe, fragen dagegen die Kritiker und fordern, auf das Spektakel zu verzichten und das gesparte Geld direkt im sozialen Bereich zu investieren. Was Marianne Buggenhagen für eine naive Sicht der Dinge hält. Ohne Olympia, glaubt sie, werde im sozialen Bereich weiter gekürzt werden, wie jetzt auch schon: „Wenn wir die Spiele nicht kriegen, suche ich noch in zwanzig Jahren auf dem Alex vergeblich nach einer behindertengerechten Toilette.“

Sollten die Olympische Spiele und die Paralympics 2000 tatsächlich in Berlin ausgetragen werden, würde auch Marianne Buggenhagen gern noch am Start sein, trotz ihrer dann 47 Jahre. Das Alter sei nicht entscheidend, „im Behindertensport können auch Reifere noch mithalten“. Das nächste sportliche Ziel liegt näher. Im Juni wird sie mit der deutschen Nationalmannschaft um den Titel des Rollstuhleuropameisters im Basketball streiten. „Vielleicht ist der Austragungsort ein gutes Omen“, sagt sie: Das Turnier findet in Berlin statt. Holger Gertz