Die Tradition des mea culpa

Ein Beitrag zur Debatte um die Erinnerungskultur in Deutschland  ■ Von James E. Young

Im Rahmen der „Skulptur Projekte '87“ installierte Sol LeWitt, geometrischer Minimalist aus den USA, einen großen Kubus aus schwarzen Steinen auf dem Platz vor der Universität Münster und widmete ihn den „verschwundenen Juden Münsters“. Wie ein verlassener schwarzer Sarg stand er zwischen aufstrebenden Pseudo- Barockfassaden und Gaslaternen, ein schwarzer Ausschlag auf dem sonnigen und anmutigen Universitätsplatz. Mit der Zeit bedeckte sich der „schwarze Kasten“ mit Graffiti und politischen Parolen, die den Kontrast zu der eleganten Umgebung noch stärker hervorhoben. Die Fahrer der Universitätsverwaltung beklagten sich, er lasse ihnen keinen Raum zum Wenden, nachdem sie ihre Fahrgäste abgesetzt hätten; anderen Bürgern mißfiel, wie er die ästhetische Integrität eines teuren neuen Platzes verdarb. Trotz wütender Proteste des Kurators und inständiger Bitten des Künstlers zerstörte eine Abbruchfirma im März 1988 im Auftrag der Universität den schwarzen Kasten. Eines verschwundenen Volkes wurde nun mittels eines verschwundenen Denkmals gedacht.

Wenige Monate später lud die Hamburger Kulturbehörde LeWitt ein, sein Denkmal vor dem Rathaus in Altona wieder zu erbauen, wo es am 9. November 1989 enthüllt wurde, am selben Tag, an dem auch die Berliner Mauer durchbrochen wurde. Es gibt wohl kein besseres Sinnbild für die konfliktbeladenen, selbstverleugnenden Motive deutscher Erinnerungsarbeit als das verschwundene Denkmal. Einerseits nimmt niemand seine Denkmäler ernster als die Deutschen. Fast monatlich werden Wettbewerbe für neue Denkmäler gegen Krieg und Faschismus oder für den Frieden ausgeschrieben; zur Kennzeichnung einer Stätte der Zerstörung, Deportation oder einer verschwundenen Synagoge; oder zur Erinnerung an eine verlorene Jüdische Gemeinde. Studenten widmen ihre Sommerferien der Archäologie des Konzentrationslagers Neuengamme und fördern Artefakte aus einem anderen, grausameren Zeitalter ans Licht. Oder sie nehmen Hammer und Nägel, um in Essen eine Synagoge wieder aufzubauen oder im ehemaligen Dachauer Nebenlager Landsberg einen Gedenkstein zu errichten. Brigaden junger Deutscher begeben sich wieder pflichtgetreu nach Auschwitz, wo sie verfallene Ausstellungshallen reparieren, die Sträucher zwischen den Baracken pflegen und im Niemandsland zwischen den einstmals elektrisch geladenen Zäunen Unkraut jäten. Ebenso fleißig wie die Generationen vor ihnen arbeiten die deutschen Teenager heute genauso hart, um Denkmäler zu errichten, wie ihre Eltern nach dem Kriege beim Wiederaufbau und ihre Großeltern beim Aufbau des Dritten Reiches selbst.

Nichtsdestoweniger bleibt die Erinnerungsarbeit am Holocaust in Deutschland nach wie vor eine quälerische, grüblerische, lähmende Beschäftigung. Jedes Denkmal wird endlos überprüft, erklärt und diskutiert. Künstlerische, ethische und historische Fragen beschäftigen die Jurys in einem Ausmaß, das anderen Ländern fremd ist. In einer wahren Sisyphusarbeit wird die Erinnerung mühsam auf die Spitze des Bewußtseins gehoben, nur um wieder zurückzurollen, so daß alles von neuem beginnt. Deutschlands „Denkmalsarbeit“ rückt das Objekt der Erinnerung in die Ferne und begründet es zugleich. Ein derartiges Aufgehen in der Errichtung von Denkmälern mag als Ausweichen vor der Erinnerung erscheinen, aber vielleicht stimmt es ja auch, daß die beste Beschäftigung mit der Erinnerung darin besteht, sie niemals einer Auflösung zuzuführen.

Wenn man sich die traditionelle Funktion des staatlich geförderten Denkmals als selbstverherrlichendem Ort nationaler Erinnerung vergegenwärtigt, kann die grundlegende, fast lähmende Ambiguität der deutschen Erinnerung nicht überraschen. Schließlich macht sich eine Nation nur selten die Mühe, der Opfer ihrer eigenen Verbrechen zu gedenken – die Sieger der Geschichte dagegen haben seit langem Denkmäler zur Erinnerung an ihre Triumphe, die Verlierer Denkmäler zur Erinnerung an ihr Leid errichtet. Wo sind die nationalen Denkmäler für den Völkermord an den amerikanischen Indianern, für die Millionen Afrikaner, die in Amerika versklavt und ermordet wurden, für die Millionen verhungerter Kulaken und Bauern? Es gibt sie kaum.

Was ist dann also mit Deutschland, einer Nation, die zu Recht gezwungen wurde, sich der Leiden und Verwüstungen zu erinnern, die sie einstmals im Namen des eigenen Volkes verursachte? Wie kann ein Staat seine Verbrechen gegenüber anderen in die Landschaft seiner nationalen Denkmäler einfügen? Wie artikuliert, geschweige denn feiert ein Staat die Litanei seiner Missetaten, wie macht er sie zu einem Bestandteil seiner Existenzberechtigung? Unter wessen Ägide, nach welchen Regeln erinnert sich eine Nation ihrer eigenen Barbarei? Wo ist die Tradition für das mea culpa der Denkmäler, wenn Erinnerung und Selbstanklage sich so hoffnungslos zu widersprechen scheinen? Anders als staatlich geförderte Denkmäler, die Opfernationen und Völker in Polen, Holland oder Israel sich selbst errichteten, sind deutsche Denkmäler notwendigerweise Monumente des Verfolgers, der sich seiner Opfer erinnert. Angesichts dieses notwendigen Bruchs mit dem konventionellen „Denkmalskodex“ ist es keine große Überraschung, daß Deutschlands nationale Erinnerung so zerrissen und verknäult wirkt: es ist die Erinnerung einer Nation, die von ihrem konfliktbeladenen Wunsch gequält wird, einen neuen und gerechten Staat auf dem Fundament der Erinnerung an seine schrecklichen Verbrechen zu errichten.

Eines der faszinierendsten Ergebnisse der grundlegenden Schwierigkeiten mit Deutschlands Denkmälern ist die Entstehung der „Antidenkmäler“: Schamlose, schmerzhaft ihrer selbst bewußte Erinnerungsräume, die ihre eigene Existenzberechtigung infragestellen sollen. Am ehemaligen Ort von Hamburgs größter Synagoge, am Bornplatz, hat Margrit Kahl ein kompliziertes Mosaik angelegt, das die komplexen Linien der Dachkonstruktion der Synagoge nachvollzieht: Ein Palimpsest eines Gebäudes und einer Gemeinde, die nicht mehr existieren. Norbert Radermacher wird einen schuldvollen Ort in Berlin-Neukölln in das eingeschriebene Licht seiner Vergangenheit eintauchen. Alfred Hrdlicka begann ein Gegenmonument in Hamburg (vollendete es aber nie), um ein unzerstörbares Nazidenkmal in der Nähe zu neutralisieren. In einem Vorort Hamburgs haben Jochen und Ester Gertz eine schwarze Säule gegen den Faschismus und für den Frieden errichtet, die im Laufe der Zeit ganz verschwinden soll. Im Zentrum von Berlin selbst, am ehemaligen Ort des Gestapo- Hauptquartiers, bleibt eine große klaffende Wunde, während Politiker, Künstler und verschiedene Ausschüsse unaufhörlich über das für diesen Platz am besten geeignete Denkmal diskutieren.

Für eine neue Generation von Künstlern im heutigen Deutschland lautet die Frage nicht, ob man sich an den Holocaust erinnern oder ihn vergessen soll. Angesichts der quälenden Komplexität der Beziehung ihres Landes zur Vergangenheit fragen sie sich eher, ob Denkmäler selbst die öffentliche Erinnerung nicht eher verdrängen als sie verkörpern. Ihrer ethischen Pflicht zur Erinnerung bewußt, ästhetisch jedoch gegenüber den Prämissen traditioneller Denkmalsformen skeptisch eingestellt, erprobt eine neue Generation zeitgenössischer deutscher Künstler und Denkmalsbauer die Grenzen sowohl ihres Mediums als auch des Denkmalsgedankens überhaupt. Sie sind Erben einer zwiespältigen Hinterlassenschaft des Krieges: geprägt von einem tiefen Mißtrauen gegenüber allen Denkmalsformen, die noch immer unter ihrer systematischen Ausbeutung durch die Nazis leiden, und dem tiefen Wunsch, ihre Generation durch die Erinnerung von der der Mörder zu scheiden. Vertraut mit einer Ära der land art, konzeptueller und selbstzerstörender Kunst setzen sich diese Künstler nicht nur mit der Notwendigkeit der Erinnerung auseinander, sondern auch mit ihrer Unfähigkeit, sich an Ereignisse zu erinnern, die sie niemals direkt erlebten. Ihrem Denken genügen weder buchstäbliche noch figurative Bezüge, die mehr ausdrücken als ihre eigene abstrakte Verbindung zum Holocaust. Sie versuchen nicht, die Erinnerung an Ereignisse einzufangen, erinnern sich vielmehr nur ihrer eigenen Beziehung zu den Ereignissen, der großen Zeitkluft zwischen ihnen und dem Holocaust.

Dieser Generation deutscher Künstler ist der Gedanke unerträglich, daß sich die Erinnerung an so schwere Begebenheiten auf die Darbietung allgemeiner Kunstfertigkeit oder billiges Pathos reduzieren könnte. Verächtlich lehnen sie alle traditionellen Formen und Gründe öffentlicher Denkmalskunst ab, all jene Flächen, die den Betrachter trösten oder von tragischen Ereignissen erlösen sollen, die sich in einer billigen Art der Wiedergutmachung ergehen oder die Erinnerung an ein ermordetes Volk zu beleben behaupten. Konventionelle Denkmäler, so fürchten sie, isolieren die Erinnerung vom Bewußtsein, versiegeln sie, statt sie ins öffentliche Bewußtsein zu brennen. Diesen Künstlern erscheint ein derartiges Ausweichen als der schlimmste Mißbrauch der Kunst, denn deren wichtigste Funktion besteht ihrer Meinung nach darin, den Betrachter aus seiner Beschaulichkeit zu reißen, seine Prämissen in Frage zu stellen und ihres natürlichen Charakters zu berauben.

In Hoheisel, Rademacher und besonders dem Ehepaar Gertz begegnet uns eine neue Künstlergeneration, die die Grundlagen ihrer Denkmalsarbeit neu überdenkt – und so entstehen Monumente, die sich schon der Möglichkeit ihrer Entstehung widersetzen.

Für einen Amerikaner, der miterlebt, wie Deutschlands Denkmalskultur im Licht des Holocaust mit sich selbst zurechtkommt, bietet diese Entwicklung einen ungeheuren Reiz. So provozierend und schwierig diese Antimonumente auch sein mögen – keine andere Denkmalsform scheint heute das deutsche Dilemma so gut zu verkörpern. Indem das Antimonument die grundlegende Veränderbarkeit des Denkmals formalisiert und den Wandel seiner Form in Zeit und Raum sogar hervorhebt, lehnt es die selbstnegierende Prämisse des traditionellen Denkmals ab. Ebenso wie das dauerhafte Denkmal will es die Erinnerung anregen, aber indem es sein eigenes, wechselhaftes Antlitz explizit ausstellt, bringt es auch die unvermeidliche – sogar grundlegende – zeitliche Entwicklung der Erinnerung selbst zum Vorschein. In seiner konzeptuellen Selbstzerstörung bezieht sich das Antimonument nicht nur auf seine eigene physikalische Veränderbarkeit, sondern auch auf das Grundelement allen Sinnes, aller Erinnerung – insbesondere, wenn sie sich in Formen verkörpern, die ihre Unveränderlichkeit betonen. Als Denkmal präsentiert sich das Antimonument als das skeptische Gegengift gegen die Illusion, die scheinbare Dauerhaftigkeit des Steins könne irgendwie die Dauerhaftigkeit der mit ihm verbundenen Denkmalsidee garantieren.

Wenn das Antimonument seine Form negiert, muß es jedoch nicht die Erinnerung negieren. Und wenn es die Voraussetzungen seiner Existenz hinterfragt, stellt es doch keineswegs den Schrei nach Erinnerung selbst in Frage. Vielmehr negiert es nur die Illusion der Dauerhaftigkeit, die durch Denkmäler traditionell genährt wird. Denn indem es die Aufmerksamkeit auf seine eigene Veränderbarkeit lenkt, verhöhnt das Antimonument die traditionelle Geschichtssicherheit des Denkmals: Es verachtet, was Nietzsche „antiquarische“ und „monumentale“ Geschichte genannt hat, seine Epitheta für die versteinerte Version einer Geschichte, die die Lebenden unter sich begräbt. Letztendlich und paradoxerweise erneuert das Antimonument, indem es sich seinem eigenen Daseinsgrund widersetzt, eben die Idee des Denkmals selbst.

Solche Denkmäler erinnern uns tatsächlich daran, daß die besten deutschen Erinnerungen an die faschistische Zeit und ihre Opfer vielleicht überhaupt nicht in einem einzelnen Monument bestehen – sondern einfach in der niemals endenden Debatte darüber, welche Art Erinnerung bewahrt werden solle, wie das zu tun sei, in wessen Namen und zu welchem Zweck. Das heißt: Worin liegen die Folgen solcher Erinnerungen? Wie reagieren Deutsche auf die heutige Verfolgung von Ausländern in ihrem Lande im Licht ihrer Erinnerung an das Dritte Reich und seine Verbrechen? Statt einer fixierten Figur der Erinnerung könnte heute die Debatte selbst – niemals entschieden, geführt unter ständig neuen Bedingungen – das Denkmal werden.

Aus dem Amerikanischen von Meino Büning