■ Editorial: Zur „Historisierung“
Der Beginn des sogenannten Historikerstreits liegt nun acht Jahre zurück. Martin Broszat, Leiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, schrieb 1985 von der „Notwendigkeit und Schwierigkeit, den Nationalsozialismus in die deutsche Geschichte einzuordnen“. Ein Jahr später behauptete Ernst Nolte in der FAZ, daß „die sogenannte Judenvernichtung des Dritten Reichs eine Reaktion oder verzerrte Kopie und nicht ein erster Akt oder das Original war“, eine „Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution“. Jürgen Habermas wies dann in einer Replik auf die Bedeutung der revisionistischen Thesen Noltes, Hillgrubers, Stürmers und anderer hin für die Konstruktion einer nationalen Identität.
Aus Stürmers These — „In der Wirklichkeit des geteilten Deutschlands müssen die Deutschen ihre Identität finden, die im Nationalstaat nicht mehr zu begründen ist, ohne Nation aber auch nicht“ — ergibt sich die Frage, welche Auswirkungen die Wiedervereinigung auf die Konstruktion dieser Identität und die Erinnerungskultur Deutschlands hatte. Ist das zentrale Mahnmal an der Schinkelschen Wache in Berlin, mit dem die Bundesrepublik sich nun offiziell an das Kaiserreich angeschlossen und die ermordeten europäischen Juden mit den gefallenen Wehrmachtssoldaten in eine allgemein menschliche Pietà eingeschmolzen hat, Zeichen eines offiziellen Schlußstrichs unter die „Vergangenheit, die nicht vergehen will“?
Bedeutet „Historisierung“ automatisch Revisionismus, oder gibt es, beispielsweise in der Erforschung der Alltagskultur, der modernen Bevölkerungspolitik oder der des Antisemitismus Möglichkeiten, den Nationalsozialismus in die Geschichte einzuordnen, ohne ihn zu einem bloß historiographischen Phänomen zu verharmlosen? Kann es überhaupt eine gemeinsame Geschichtsschreibung von Opfern und Tätern geben? Eine Reihe zu diesem Thema eröffnet James E. Young, Professor für Judaistik und Anglistik an der Universität von Massachusetts in Amherst. In Deutschland ist er vor allem durch seine kulturkritischen Analysen der Darstellung des Holocaust in Literatur, Film und Malerei bekannt. Er war einer der ersten, die sich an die „Dokumente“ unter ästhetischen Gesichtspunkten heranwagten. Young versteht Gedenkstätten als „Verfassungen“ eines Landes und betrachtet in seinem heutigen Beitrag die der Bundesrepublik. mn
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