Nizza sucht einen neuen Paten

Le Pen und seine Front National nutzen die Stadt als Sprungbrett ins Parlament  ■ Aus Nizza Bettina Kaps

Die Bäckerin verkauft das letzte Stück ihrer puderzuckerbestreuten Tourta de blea. „Mangoldkuchen“, übersetzt sie zufrieden aus dem örtlichen Dialekt Nissard. „Habe ich nach dem Rezept von Jacques Médecin gebacken. Nur so schmeckt er richtig.“ Das Buch „Die Küche der Grafschaft Nizza“ ist eines der folkloristischen Werke von Médecin, mit dem er dem Lokalpatriotismus der Nizzaer schmeichelte. Im Hauptberuf war der Hobbykoch Bürgermeister. Heute kostet Jacques uruguayische Spezialitäten. Um der Verhaftung wegen massiver Betrügereien zu entgehen, setzte er sich wie ein schäbiger Dieb ins ebenfalls sonnige Punta del Este ab, wo er jetzt mit T-Shirts handelt. Doch die Nizzaer lassen auf ihren Jiacou nichts kommen. „Ihm blieb ja nichts anderes übrig“, sagt die Bäckerin mitfühlend, „sonst wäre er noch im Gefängnis gelandet.“

Ob Taxifahrer, Gastwirte oder Blumenhändler – fast alle Geschäftsleute der Innenstadt verehren den Steuerhinterzieher wie einen Schutzpatron. Denn Médecin hat dafür gesorgt, daß es kleinen und großen Bürgern gut ging: so lebte der Korbflechter im Hinterhof der Altstadt jeweils ein Vierteljahr davon, daß die Stadt bei ihm eine Karnevalspuppe bestellte. Und Freunde des Stadtherrn profitierten von dessen wilder Bautätigkeit, die zugleich vielen Einheimischen über Jahre hinweg Arbeit und Geld verschaffte. Betonburgen wie das Kongreßzentrum Akropolis, unter dem der Fluß Paillon einfach beerdigt wurde, nahmen sie dafür in Kauf.

„Jetzt verkommt alles“, meint sogar der Busfahrer der Linie 3 und deutet – vom zunehmenden Verfall felsenfest überzeugt – auf die immer noch gepflegten Primelrabatten im Park vor der Meerespromenade. Selbst enorme Reinfälle konnten Médecins Rückhalt bei der alteingesessenen Bevölkerung nicht mindern, etwa die Idee, Nizza zum „europäischen Las Vegas“ zu machen. Das Gerippe des früheren Kasinos Palais de la Mediterranée im Stil der 30er Jahre zeugt von diesem Flop.

Solche Projekte haben Nizza zu einer der meistverschuldetsten Städte Frankreichs werden lassen. Seit Médecin fort ist, haben die Gläubiger den Geldhahn zugedreht. Sein Nachrücker, der 72jährige Honoré Bailet, schlägt sich jetzt mit den Schulden sowie den Folgen einer Herzoperation herum. Durch die Krankheit ist er kaum präsent, als Bürgermeister nimmt den geschwächten Mann niemand ernst.

Nizza fühlt sich verwaist. Der Sonderstatus der Stadt ist gefährdet; die Fähigkeit, sich ohne „französische“ Einmischung durchzuschlagen, droht verloren zu gehen. Denn ganz französisch will die Stadt bis heute nicht sein und erst recht nicht republikanisch: Erst 1860 trat König Viktor-Emmanuel von Sardinien-Piemont die Grafschaft Nizza an Frankreich ab. Seither verfolgen die Nizzaer zu allererst ein Ziel: die Zügel in der Hand zu behalten und sich von Frankreich abzuschotten.

Nach der Monarchie warfen sie sich deshalb in die Hände ungekrönter Orts-Könige. Jacques war Sproß einer solchen Dynastie: Groß- und Urgroßvater hatten bereits wichtige Ämter inne, sein Vater Jean war von 1928 an Bürgermeister. Nach dessen Tod übernahm der Sohn 1966 mit Hilfe einiger alteingesessener Familien das Amt. Zur Verherrlichung des Vaters taufte er die wichtigste Einkaufsstraße und das größte Schwimmbad auf den Familiennamen. Die Leute sprachen daher auch von Roi Jean und Roi Jacques. Der Titel „Pate“ stünde dem Nachkommen gewiß besser an. Zusammen mit seinem treu ergebenen Clan dirigierte er alle städtischen Angelegenheiten. Dabei umgab er sich mit Politikern, die er in allen konservativen Parteien plazierte. Denn Parteinamen waren in Nizza bislang pure Etiketten – Médecin selbst wechselte sie je nach den Erfordernissen der Zeit. Was hier zählte, war allein seine Rückendeckung. Doch hielt er sich für unverwundbar? Oder wollte er nach sich ein Chaos hinterlassen, um sein Ansehen in der Bevölkerung noch zu erhöhen? Médecin, der selber keinen Sohn hat, versäumte es, einen Thronfolger zu designieren.

Heute hat das feingesponnene Netz aus Gefälligsein und Abhängigkeit seinen Kopf verloren. Derweil streiten sich die bébés Médecin um die Nachfolge. „Die sind doch nur durch Médecin hochgekommen“, sagen die Leute über die Lokalpolitiker. „Kaum hatte er Schwierigkeiten, da haben sie ihn kalt fallengelassen. Solchen Menschen kann man nicht trauen.“ An der Glaubwürdigkeit der politischen Klasse rüttelt auch die Justiz: gegen elf Stadträte wird ermittelt. Die Lokalzeitung trübte die Stimmung mit ihren Enthüllungen gezielt weiter: drei Wochen vor den Wahlen schoß Nice-Matin den konservativen RPR-Abgeordneten der Stadt an. Christian Estrosi soll an Geldschiebereien im Zusammenhang mit einem Golfplatz beteiligt gewesen sein. Was der spendable Médecin sich ungeniert leisten konnte, wird einem jungen Politiker nicht unbedingt verziehen. Estrosi hofft dennoch auf ein gutes Wahlergebnis, um das Bürgermeisteramt zu erobern.

Das politische Vakuum hat vor allem einer Partei Appetit gemacht: der Front National. In dieser Stadt, die die französische Revolution nicht miterlebt hat und dadurch so rechts geprägt ist wie keine andere in Frankreich, versucht Jean-Marie Le Pen persönlich sein Glück. Erstmals kandidierte er hier bei den Regionalwahlen vor einem Jahr; damals wurde die FN in Nizza mit 30 Prozent der Stimmen stärkste politische Kraft. Für die Wahlen zur Abgeordnetenversammlung am 21. und 28. März hat der Chef sich den dritten Wahlkreis ausgesucht, der sich von der Innenstadt bis in die bei ordentlichen Bürgern verrufene Vorortsiedlung Ariane zieht. Hier hatte die FN am besten abgeschnitten. Als Bretone hat Le Pen jedoch ein Handicap: in Nizza ist er ein parachute, einer, der mit dem Fallschirm gelandet ist. Er kennt die Verhältnisse nicht und kommt nur hin und wieder zum Wahlkampf vorbei. Solche Leute mag die Stadt nicht.

Die Themen der Front National sind auf Nizza jedoch wie zugeschnitten: Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und die Immigranten als Sündenböcke für alle Übel im Land. Marie-Louise Garcia hat sich von solchen Reden verführen lassen. Die Französin wurde vor 47 Jahren in Algier geboren; nach der Unabhängigkeit mußte sie das Land zusammen mit einer Million Algerien-Franzosen verlassen. In Nizza leben etwa 70.000 pieds noirs, wie sie sich selber nennen, das sind 15 Prozent der Bevölkerung. Einige von ihnen haben die Demütigung der Vertreibung nicht verwunden. „Wir durften in Algerien nicht zu Hause sein“, schimpft die Frau, während sie die Briefkästen der Avenue Jean Médecin mit Propagandamaterial füllt. „Jetzt sollen die Araber nur nicht denken, daß sie bei uns zu Hause wären.“ Ihre Flugblätter fordern nationale Bevorzugung und die Ausweisung der Immigranten. Marie- Louise Garcia macht les arabes auch für die angebliche Unsicherheit in der Stadt verantwortlich. „Passen Sie auf“, flüstert sie und vergewissert sich, daß kein Dritter zuhört: „Die mögen blonde Frauen. Abends können wir nicht mehr allein auf die Straße gehen.“

Für die schweren Delikte an der Côte d' Azur wird jedoch das organisierte Verbrecher- und Drogenmilieu verantwortlich gemacht. Allein im Herbst wurden fünf Menschen ermordet. Im Januar explodierten elf Sprengsätze: eine Anwaltskanzlei und eine Sandwichbude gingen in Flammen auf, das Gefängnis und der Justizpalast wurden leicht beschädigt. Diese höchst unterschiedlichen Ziele ließen den Spekulationen freien Lauf: Bandenkrieg, Mafia, Erpressung von Schutzgeldern... Die Gegner der FN sind überzeugt, daß das Anheizen des politischen Klimas im Vorfeld der Wahlen auch ein Motiv für die Anschläge gewesen sein könnte. Am Wochenende wurden 18 Verdächtige aus dem Verbrechermilieu verhaftet, darunter war kein Nordafrikaner. Hingegen hatte einer der Verdächtigten tatsächlich Plakate für die FN geklebt und Le Pen als Leibwächter gedient, als dieser der Hochhaussiedlung Ariane einen Wahlkampfbesuch abstattete.

„Mit sauberen Händen und erhobenem Kopf“, mit diesem Wahlspruch wollen sich die Kandidaten der FN vom Sumpf der etablierten Parteien absetzen. Süffisant erinnern sie daran, daß der Stiefsohn des Bürgermeisters in Untersuchungshaft sitzt: er soll einen Wirt erdrosselt und ausgeraubt haben. Die Botschaft der Rechten lautet: „Nizza braucht einen neuen Chef!“

Die Gegner der Front National formieren sich ebenfalls. Der Rat der jüdischen Institutionen (CRIF) warnt schon seit Jahren, daß die Rechtsextremisten das Rathaus unterwandern wollen. 1990 hatte Médecin seinen Haushalt ungeniert mit Hilfe von FN- Stadträten durchgebracht. Jetzt hat der CRIF unter den 30.000 Juden der Stadt eine Telefonkampagne gestartet, um sie an die Eintragung ins Wählerverzeichnis zu erinnern und zur Wahl zu motivieren.

Gegen die Wahlmüdigkeit kämpft auch die Association pour la Democratie à Nice (ADN). Der Verein aus Bürgern, Intellektuellen und Künstlern gründete sich spontan, nachdem Le Pen bei einem Bad im Meer vor zwei Jahren verkündet hatte, daß er Nizza zu seiner Wahlheimat erkoren habe. ADN will zum Beispiel mit „dem größten Blumenbukett der Welt“ Werbung machen: ein Gesteck aus 60.000 Blumen soll die Stadt ins Guiness-Buch bringen. Die Absicht der Aktion: „Die Nizzaer davon zu überzeugen, daß sie das Bild dieser schönen Stadt nicht mit einem Wahlerfolg der Rechtsextremen aufs Spiel setzen dürfen.“

Die Sorge vor einem schlechten Image der Stadt könnte Nizza tatsächlich vor der Front National retten. Hoteliers, Gastwirte und alle anderen Berufsgruppen, die vom Tourismus leben, fürchten nichts mehr als den Erfolg von Le Pen. Denn in der Hochsaison schwillt die 400.000-Einwohner-Stadt bis auf das Zehnfache an. Negative Schlagzeilen könnten die Branche ruinieren. „Nizza wird nie einen FN-Bürgermeister haben“, prophezeit daher der Vorsitzende des CRIF, Lucien Samak, gelassen.

Diese Ansicht teilt ganz offensichtlich der örtliche FN-Politiker Jacques Peyrat, der hier als alteingesessener Nizzaer bessere Siegeschancen hat als Le Pen. Der Rechtsanwalt baut deshalb vor: er hat sich eine parteilose rechte Kommunalpolitikerin zur Stellvertreterin für das Abgeordnetenmandat gewählt. Auf vielen Plakaten läßt er das Parteiabzeichen ganz weg. Und in den Kommunalwahlkampf – das kündigt er jetzt schon offen an – will er ohne die Front National ziehen. Für Nizzas Politiker geht es am 21. März um mehr als die vier Sitze im französischen Parlament: sie peilen die Macht über die fünftgrößte Stadt des Landes an.