„Quittung für die Arroganz der Macht“

Nach dem niederschmetternden Kommunalwahlergebnis scheint die SPD in Kassel aus dem Rennen/ Derweil denken CDU und Grüne ernsthaft an eine Koalition  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Auf dem Spielplan des Schauspielhauses in Kassel steht der „Kleine Horrorladen“ – auf dem Spielplan des Rathauses der große: Von satten 50,5 Prozentpunkten waren die Genossen in der Nordhessenmetropole bei den Kommunalwahlen am vorletzten Sonntag auf ganze 29,8 Prozentpunkte zurückgeworfen worden (minus 20,7 Prozent). Der tiefen Depression der Sozialdemokraten in der Wahlnacht folgte ein innerparteilicher Erosionsprozeß von geradezu verheerenden Ausmaßen.

Schon am Dienstag nach der Wahl dankte SPD-Unterbezirkschef Wolf Diethart Breidenbach ab. Am Mittwoch darauf bat der SPD-Oberbürgermeister Wolfram Bremeier die designierten ParlamentarierInnen der neuen Legislaturperiode um rasche Abwahl (bei einem Rücktritt wären die Pensionsansprüche obsolet geworden). SPD-Fraktionschef Ingo Groß war noch in der Nacht zum Donnerstag zurückgetreten. Im Trakt der Sozialdemokraten im historischen Rathaus schlichen die MitarbeiterInnen der Fraktion daraufhin mit Leichenbittermienen durch die Gänge. „Ich kauf' mir 'nen Strick“, jammerte ein Sozi einem anderen in der Rathauslobby vor. Die Replik: „Bring mir bitte einen mit.“

Einsam die Stellung hält in Kassel eine Frau als „amtierende Vorsitzende“ – Christa Rudolph, quirlige Betriebsrätin in einem Zeitungsverlag und bislang stellvertretende Unterbezirksvorsitzende der Partei. Und während die zurückgetretenen Männer noch in der Wahlnacht der „allgemeinen Politikverdrossenheit“ und dem „unklaren Bonner Kurs der SPD“ den Löwenanteil an Schuld am gnadenlosen Abwärtstrend zuschusterten, steht für Rudolph fest, daß „Form, Stil und Verhalten“ der Genossen in Kassel für den Erdrutsch gesorgt haben: „Das ist die Quittung für die Arroganz der Macht – das kann man nicht anders ausdrücken.“

Ohne sich allzu viel um Volkes Stimme zu scheren und ohne auch nur den Versuch zu machen, die anderen Rathausfraktionen (CDU, Grüne, FDP) in die Entscheidungsfindungen einzubinden, habe die SPD ihre Mehrheit von nur einer Stimme im Stadtparlament „gnadenlos ausgespielt“. „Mehrheit ist Mehrheit“ habe die Devise gelautet. Und dieses „Machtgeprotze“, so Rudolph selbstkritisch, sei den BürgerInnen sauer aufgestoßen. Zur Sachpolitik ihrer Partei steht die Frau, die beim nächsten Unterbezirksparteitag ihren Hut in den Ring werfen und für den Parteivorsitz kandidieren will, allerdings weiterhin. „Die Durchsetzung der Verkehrsberuhigung war wichtig und richtig – nur ihre Vermittlung nicht ausreichend professionell.“

„Verkehrsberuhigung“ ist in Kassel in der Ägide Bremeier zum Reizwort geworden. Weil die SPD-Administration diverse Stadtteile mit rot-weißen Pfählen zupflasterte, hat sie den geballten Zorn der autofahrenden BürgerInnen und WählerInnen zu spüren bekommen: „Vielleicht waren's ein paar von den Dingern zuviel“, räumt Rudolph ein. Ein „schrittweiser Vollzug“ der neuen Verkehrsberuhigungspolitik hätte da im Endeffekt „vielleicht bessere Akzeptanzergebnisse“ gezeitigt.

Als kurz vor den Kommunalwahlen den Taxifahren verboten wurde, die neu eingerichteten Busspuren zu benutzen, gingen auch sie auf die Barrikaden. Und nachdem bei der Feuerwehr durchgesickert war, daß man angeblich wegen der Millionen für Verkehrsberuhigungsmaßnahmen Personal bei den Blauröcken abbauen möchte, wurde es für die Sozialdemokraten brandgefährlich. Da legten sich dann selbst Gewerkschafter quer zur Parteilinie und nahmen Bremeier unter Feuer.

Den letzten Wahlkampfhit für die Oppositionsparteien errichten die Sozialdemokraten auf dem Königsplatz in der City. Dort steht heute, zum Ärger der einen und zum Amusement der anderen, eine hölzerne Freitreppe mit einer Aussichtsplattform: ein Teil der alten Stadiontribüne der Offenbacher Kickers, die in Kassel eine späte Würdigung erfahren hat? Eine „Einmal in die Ostzone gucken dürfen“-Gangway aus dem Nachlaß des Berliner Senats?

Auf alle Fälle, und da sind sich die KasselanerInnen sicher, „eine Schande für die in aller Welt berühmte kunstsinnige Stadt“. So jedenfalls lautete auch am Donnerstag der Tenor der Stellungnahmen der über den kreisrunden Platz flanierenden BildungsbürgerInnen. Und ein taubenfütternder Rentner brachte es unter beifälligem Kopfnicken der Umstehenden auf den Punkt: „Des Monstrum gehört abgerisse.“ Und selbst die „Berber“, die sich auf der Treppe in der Sonne räkelten, sind sauer auf die SPD. Seit Einführung der kommunalen Getränkesteuer durch den Magistrat müssen sie nämlich fürs Bierchen am Büdchen unter der Treppe ein paar Pfennige mehr berappen.

Am Zug ist in Kassel jetzt die CDU. Deren Oberbürgermeisterkandidat Georg Lewandowski (MdL) hat – mit der stärksten Rathausfraktion im Rücken – den „Koalitionsverhandlungsauftrag“ angenommen, SPD-Oberbürgermeister Bremeier zum Rücktritt aufgefordert und den „Treppensturz“ angekündigt. Die SPD hat nur noch in einer großen Koalition die Chance, in der Regierungsverantwortung zu bleiben, denn die FDP steht für eine „Ampel“ nicht zur Verfügung. Für den FDP- Fraktionsvorsitzenden Klaus Schuchhardt steht fest, daß die WählerInnen die SPD auf der Oppositionsbank sehen wollen. Und weil auch Lewandowski erklärt hat, daß eine große Koalition nicht anstehe, sind die Sozialdemokraten (wahrscheinlich) aus dem Rennen – und die Grünen in den Startlöchern.

Die haben an der Spitze keine allzu großen Probleme, sich mit dem Gedanken an eine schwarz- grüne Koalition anzufreunden. Weil die „Republikaner“ mit vier Mandaten in das Stadtparlament eingezogen sind, setzen die Grünen auf „stabile Mehrheiten“, auch wenn, wie Spitzenkandidat Volker Schäfer erklärte, das Spiel mit wechselnden Mehrheiten auch seinen Reiz gehabt hätte. Im Grunde, so Fraktionsmitglied Jo Dreiseitel, blieben nach der FDP-Absage an eine „Ampel“ ohnehin nur noch zwei realisierbare Varianten übrig: große Koalition oder schwarz- grüne Koalition. Eine große Koalition, so die Grünen, würde den Wählerwillen auf den Kopf stellen: „Der SPD wurde die rote Karte gezeigt. Und die SPD kann sich nur in der Opposition regenerieren.“ „Partnerschaftlich rein in die Gespräche mit der CDU“, lautet denn auch die Devise.

Das sieht auch der CDU-Oberbürgermeisterkandidat Lewandowski so. Nach einem ersten Gespräch mit den Grünen am Donnerstag sagte Lewandowski, er habe den Eindruck gewonnen, daß beide Seiten „ernsthaft am Zustandekommen einer schwarz-grünen Koalition interessiert“ seien. Für den CDU-Politiker sind die Grünen die „weitaus sympathischere Alternative“. Der Wähler, so Lewandowski, müsse sich doch betrogen vorkommen, wenn die abgewirtschaftete SPD durch die Hintertür der großen Koalition wieder zum Zug kommen würde. Daß in Sachfragen bei den Koalitionsverhandlungen „Problemberge“ abzuarbeiten sind, weiß auch er. Doch wenn es beiden Parteien gelänge, die großen ideellen Unterschiede und bundespolitischen Streitthemen mit einer Konzentration auf die Kommunalpolitik „außen vor“ zu lassen, könne das „Novum“ gelingen.

Einen Stolperstein hat der auf das Amt des Oberbürgermeisters spekulierende Lewandowski den Grünen allerdings bereits selbst vor die Füße gelegt. Der Christdemokrat möchte gerne, obgleich arithmetisch verzichtbar, die FDP „dabeihaben“ – ein Ansinnen, das die Grünen in der ersten Verhandlungsrunde energisch zurückgewiesen haben. Doch Lewandowski ist kühler Rechner: Nach erfolgter Abwahl von SPD-Oberbürgermeister Bremeier will er sich bei der anschließenden Direktwahl im Kampf mit Bremeier um den Titel auch die Stimmen der FDP-WählerInnen sichern.