Einvernehmen nach diskretem Tauziehen

Er war schon fast totgeredet, der „Solidarpakt“. Doch als am Samstag abend das dreitägige Konklave der politischen Oberschicht der Republik beendet war, waren Regierung und Opposition mit sich und dem Ergebnis der Klausur zufrieden.

Zweieinhalb Jahre nach der deutschen Einheit machte das Führungspersonal der Republik endlich den zweieinhalbtägigen Intensivkurs, der seit Oktober 1990 überfällig war und wie im Zeitraffer die zweieinhalb Jahre nachzeichnete. Nach dem ersten Tag hatte man sich in positiver Grundstimmung verständigt: wir wollen uns einigen. Nach dem zweiten Tag dämmerte allen, daß die Schwierigkeitsgrade doch erheblich sind. Dennoch zeichnete sich ein kleiner Durchbruch ab: Einvernehmen beim Bund-Länder-Ausgleich ab 1995 und wohl keine Sozialkürzungen. Am dritten Tag platzte zunächst wegen eines Rechenfehlers das Ergebnis vom Vortag.

Dann erst viel später als erhofft und beabsichtigt konnte ein Ergebnis aus der Taufe gehoben werden. In großen und kleinen Runden, nach Parteilagern getrennt und wieder an einem Tisch sowie in Expertenrunden wurde gerechnet und verhandelt wie nie. Versammelt waren die Stäbe des Kanzleramts, des Finanz- und des Arbeitsministers, die FDP-Minister, die Fraktionschefs, 16 Ministerpräsidenten, deren Finanzminister, Staatskanzleichefs, natürlich die Pressesprecher — die Solidarpaktklausur hatte die Ausmaße einer internationalen Konferenz.

Es stieg kein weißer Rauch auf, statt dessen öffneten sich die Türen des Kanzleramts zur öffentlichen Verkündigung. Als am Samstag abend das große Konklave der politischen Oberschicht beendet war, hatten die wichtigsten Informationen über Lastenverteilungen, Solidaritätszuschlag und Ost-West- Transfer die Öffentlichkeit längst erreicht. Denn Kanzler, Ministerpräsidenten, Partei- und Fraktionschef schließen sich nicht ein wie Kardinäle. Allein die ständige Wanderung zwischen Kanzleramt und der gleich nebenan liegenden Landesvertretung Nordrhein- Westfalens, die für zweieinhalb Tage das Zentrum der SPD-regierten Länder war, nährten den unablässigen Nachrichtenfluß.

In Bonn fand zweieinhalb Tage nicht nur ein Sitzungsmarathon der Politiker statt. Hätte jemand mitgezählt, hätte er wahrscheinlich auch einen Rekord an Hintergrundgesprächen, Interviews und Fernsehauftritten ermittelt. Ärgerlich soll am Samstag morgen im Kanzleramt vermerkt worden sein, daß das ganze Unternehmen im Fernsehen wie eine SPD-Veranstaltung aussähe. Dennoch: alle Beteiligten verboten sich Parteiengezänk und Profilierungssucht. Das Tauziehen um die Punkte in der öffentlichen Meinung wurde diskret gehandhabt. Als Kanzler, Minister und Länderchefs am Donnerstag zusammenkamen, boten sie von der ersten Minute an ein regelrechtes Kontrastprogramm zu allen vorhergegangenen Versuchen, den „Solidarpakt“ zustande zu bringen.

Warum jetzt alles so unverkennbar in Richtung Einigung lief, ist mit einem Wort erklärt. Es heißt Hessen. Die Kommunalwahl zwang die Politiker zunächst einmal, selbst zu tun, wozu sie die Bürger im Interesse der deutschen Einheit so gerne aufrufen: die Ärmel aufkrempeln und arbeiten. Sieger und Besiegte gab es am Ende der Klausur nicht. Der Bundeskanzler, der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) und SPD-Chef Björn Engholm, der für die SPD-Länder in die erste Reihe gegangen war und in dieser Rolle Oskar Lafontaine abgelöst hat, würdigten mit unterschiedlich ausgeprägtem Pathos den Fortschritt. Helmut Kohl, so wurde berichtet, wollte offenbar auch dieses Kapitel der deutschen Einheitsgeschichte mit leichter Hand hinter sich bringen. Hessen hieß für den Kanzler Einigung beim „Solidarpakt“, aber die Mühen der Ebene hatte er sich nicht gemacht. So sollen ihm die Vorschläge der Länder, die seit einer guten Woche als Kontrastprogramm zum Föderalen Konsolidierungsprogramm der Bundesregierung vorlagen, nicht sehr vertraut gewesen sein. Der Rechenfehler, der am Samstag vormittag zunächst wieder alles stagnieren ließ, entpuppte sich als Mißverständnis. Bund und Länder hatten für die Erblastentilgung unterschiedliche Größen im Computerprogramm; daß es so lange brauchte, bis der „verdeckte Dissens“ (Waigel) gefunden war, ist bezeichnend. Bis zu dieser Klausur waren zwischen Bund und Ländern, erst recht zwischen Bundesregierung und SPD, noch nicht einmal die Zahlengrundlagen geklärt. Immer wieder mußten die Finanzexperten rechnen, meist in Milliardenbeträgen. Auch von da aus erklärt sich die Zufriedenheit mit dem Ergebnis der Klausur, auch wenn es nach allgemeinem Eingeständnis noch erhebliche Lücken hat.

Der „Solidarpakt“ war immerhin schon fast totgeredet, bevor überhaupt der erste ernsthafte Verhandlungsversuch stattgefunden hatte. Das Urheberrecht für den Begriff liegt wahrscheinlich bei der SPD — schon vor dem letzten Sommer hatte jedenfalls Altkanzler Helmut Schmidt für die Wiederauflage der Konzertierten Aktion plädiert. Im September, aus großer Verlegenheit — denn in der Unionsfraktion probten die Ost-Abgeordneten den ersten kleinen Aufstand —, machte sich Kohl den Begriff zu eigen. Doch die ersten Gespräche mit der SPD verliefen ergebnislos. Theo Waigel fiel außer Streichlisten nichts ein, und auch die SPD brauchte peinliche Umwege, bis ihre Vorstellungen vorlagen. Ihre 20 Punkte lagen dann in der Diskussion der Ministerpräsidenten vor, die sich Ende Februar in Potsdam zu einer gemeinsamen Front gegen Waigels Konzept aufbauten. Vor der hessischen Kommunalwahl war nicht zu erkennen, ob die Bundesregierung diese Vorschläge überhaupt zur Kenntnis nehmen wollte. Tissy Bruns, Bonn