Rußlands Volksdeputierte fesselten Jelzin

■ Der 8. Volksdeputiertenkongreß in Moskau endete mit einer klaren Niederlage des Präsidenten/ Jetzt herrscht Unklarheit an allen Fronten

Moskau (taz) – Aufgebracht stürzte Viktor Mironow vom Rednerpult des Deputiertenkongresses. Soeben hatte der Radikaldemokrat sein Mandat niedergelegt. Aus Protest gegen die Usurpationspolitik des höchsten russischen Gesetzgebers und aus Verachtung gegenüber seinem Vorsitzenden Ruslan Chasbulatow. Ihn betitelte er rundweg als Diktator der alten Sowjetmacht. Die mehrheitlich konservative und reaktionäre Riege der Volksvertreter konnte das nicht mehr schockieren. Im Gegenteil, je weniger Dissens im eigenen Haus, desto leichter kann man sich der Illusion hingeben, alles sei im Grunde beim alten geblieben.

Die letzten vier Tage des außerordentlichen Kongresses haben gezeigt, wie wenig Anknüpfungspunkte zwischen Regierung und Legislative tatsächlich vorhanden sind. Was mühselig in dem Ringen um eine neue Verfassung verpackt wurde, offenbarte sich als ein blanker Kampf um die Macht. Auch Präsident Jelzins letzter Vorstoß, die Zustimmung der Abgeordneten zu einem Referendum noch zu gewinnen, schlug am letzten Sitzungstag erwartungsgemäß fehl. Statt dessen forderte der Gesetzgeber die bereits für das Referendum zur Verfügung gestellten Mittel, insgesamt 20 Milliarden Rubel, wieder ein. Sie sollen nun dem Wohnungsbau für aus Osteuropa zurückkehrende Armeeangehörige zugute kommen. Offensichtlich will sich der Gesetzgeber damit bei den Militärs beliebt machen – nachdem sich Jelzin in den Vortagen demonstrativ in deren Nähe aufgehalten hat. Noch immer kursieren Ängste unter den Abgeordneten, der gebeutelte Präsident könnte die Präsidentialherrschaft verhängen und sich dabei auf das Militär stützen.

Jelzin war am Sonnabend nicht mehr im Kongreß erschienen. Sein Vizepremier Wladimir Schueiko wurde von Chasbulatow krude abgekanzelt, als er den Abgeordneten mitteilte, der Präsident werde unter keinen Umständen von seinem Vorhaben ablassen: „Spielt es irgendeine Rolle, wer was sagt?“ unterbrach Chasbulatow, der sich wie ein römischer Wagenlenker nach dem Sieg gerierte. Nach wie vor hält die Regierung an einem Wahlgang fest, auch ohne das Plazet des Kongresses. Sollte er zustande kommen, sprechen ihm die Gegner schon jetzt jede rechtliche Relevanz ab. Verfassungsrechtlich steht dem Präsidenten keine Entscheidung darüber zu. „Entscheidungen, die durch ein Referendum fallen, besitzen höchste staatliche Wirkungskraft und bedürfen keiner Bestätigung. Sie sind auf dem gesamten Territorium Rußlands bindend“, heißt es in der runderneuerten, mit Widersprüchen übersäten alten Sowjetverfassung, die Jelzin außer Kraft setzen möchte.

Natürlich fürchten die Volksvertreter einen Wahlgang, auch wenn er keine rechtlich legitimierte Kraft besitzt. Der Präsident könnte die Ergebnisse zum Anlaß nehmen, durch Notstandsmaßnahmen die Verfassung aufzuheben und den Kongreß vorzeitig aufzulösen. Im gegnerischen Lager ist man in erhöhter Alarmbereitschaft. Schneeräumfahrzeuge in Moskau wurden von hysterischen Abgeordneten der alten Garde am Freitag schon für anrückende Truppentransporter gehalten. Ihnen fehlt nicht nur die Vernunft, sondern auch schon die Sehschärfe. Chasbulatow gab zum Schluß die Parole aus, die heimkehrenden Volksvertreter sollten die Ergebnisse des Kongresses auf lokaler und regionaler Ebene durchsetzen: „Ich bitte Sie inständig, daß Sie sich in äußerst ernster und aufmerksamer Weise versichern, daß die Ergebnisse unseres Kongresses sofort auf lokaler Ebene implementiert werden.“ So viele konkrete Ergebnisse hat der Kongreß nicht gebracht. Es war daher eine unverhohlene Aufforderung, die Anordnungen des Präsidenten zu unterlaufen.

Die Regierung kündigte an, durch das Verfassungsgericht prüfen zu lassen, ob ein einmal vom Kongreß abgesegnetes Referendum einfach widerrufen werden kann. Es gilt jedoch als sicher, daß das Gericht die Entscheidung der Legislative bestätigt. Kurz vor Ende des Kongresses sammelten sich einige tausend Pro-Jelzin- Demonstranten an den Toren des Kremls. In schwächerer Besetzung begrüßten Altkommunisten ihre heldenhaften Abgeordneten im Sprechchor: „Gut gemacht!“ Klaus-Helge Donath