■ HIV-Massenhysterie in England
: Aidstest für alle MedizinerInnen?

London (taz) – Die 40 Nottelefone in der gynäkologischen Abteilung des Medway-Krankenhauses in der britischen Grafschaft Kent stehen seit Tagen nicht mehr still. Die plakativen Schlagzeilen, die sich um ihren Arzt ranken, haben eine Welle der Panik bei den 17.000 Patientinnen ausgelöst, die sich von ihm in den vergangenen Jahren behandeln ließen: Der Gynäkologe und Geburtshelfer Dr. Terence Shuttleworth, so die Hiobsbotschaft, die sie alle trifft, ist seit Jahren mit dem HIV-Virus infiziert. Das Krankenhaus, in dem er noch bis zum 2. März praktiziert hatte, schien davon nichts gewußt zu haben. Erfahren hatte es die Leitung schließlich direkt durch das Gesundheitsministerium, das Shuttleworths behandelnder Arzt aus moralischen Bedenken ins Vertrauen gezogen hatte.

Ein Schrei des Entsetzens klingt– angeheizt durch die Massenblätter– durch die ganze Nation: Wie konnte das passieren? Ratlos reagieren auch die PolitikerInnen. Die steigende Zahl von Fällen, in denen medizinisches Personal mit dem HIV-Virus infiziert ist oder Aids hat, ist Auslöser einer heftigen Debatte geworden. Der Ruf nach obligatorischen Aidstests für ÄrztInnen und Pflegepersonal sowie einer Meldepflicht ist in Britannien so laut wie nie zuvor. Selbst die unermüdlichen Beteuerungen von Gesundheitsbehörden, ÄrztInnen und WissenschaftlerInnen, wie unwahrscheinlich die Möglichkeit einer Infizierung von PatientInnen durch ihren Arzt sei, können die ausgelöste Massenhysterie kaum besänftigen.

Shuttleworth ist nicht der erste Mediziner, dessen Infizierung mit dem Aids-Virus in der britischen Öffentlichkeit für Schlagzeilen sorgt. Vor Monaten „entlarvte“ die Regenbogenpresse blutrünstig eine HIV-positive Hebamme, davor war es ein Augenarzt. „Es gibt hierzulande bisher keinen einzigen bekannten Fall, in dem sich ein Patient oder eine Patientin von seinem Arzt angesteckt hat“, sagt die Sprecherin des General Medical Council, der ärztlichen Kontrollbehörde. Das Risiko eines Arztes oder einer Ärztin, sich bei PatientInnen anzustecken, schätzt das Gesundheitsministerium „hundertmal größer ein als umgekehrt“.

Von „Frauen, die rasend vor Wut über die Entlarvung“ ihres Arztes sind, berichtete dagegen die Sun. Unter dem Foto der angeblich 450.000 Pfund teuren Villa des Gynäkologen Shuttleworth ließ sich das Blatt über eine ganze Seite über das Luxusleben aus, das der „verweichlichte“ Mann (so angeblich eine Ex-Patientin) mit seinem Lebensgefährten genieße. Das Klischee könnte nicht perfekter sein: ein homosexueller Aidskranker, der sich auf dem Rücken seiner gefährdeten Patientinnen eine goldene Nase verdient und ungeschoren in Saus und Braus gelebt hat.

„Die Presse“, so sorgt sich Mathew Davis, Sprecher der Aids- Hilfseinrichtung London Lighthouse, „weiß gar nicht, was sie da anrichtet.“ Er befürchtet eine neue Panikwelle zu Lasten der bereits geleisteten Aids-Aufklärungsarbeit. Eines haben die Schlagzeilen jedenfalls mit Sicherheit bewirkt: Wie der Sprecher des Gesundheitsministeriums prognostiziert, werde die Forderung nach verbindlichen Aids-Tests für MedizinerInnen nun sicher nicht so einfach vom Tisch zu fegen sein. Selbst die Labour-Opposition forderte die Regierung jetzt zu neuen Richtlinien für HIV-positives medizinisches Personal auf. Die bisherige Regelung verpflichtet ÄrztInnen, sich einer Beratung zu unterziehen, wenn sie wissen, daß sie infiziert sind. Doch mit der Aussicht, öffentlich an den Pranger gestellt zu werden, dürfte diese Beratung künftig wohl weniger verlockend für die Betroffenen sein. Antje Passenheim