: Lager unter neuer Leitung
Die Kontinuität des Schreckens in Konzentrationslagern der Nazis nach dem Krieg: Zwei neue Bücher über ein lange Zeit verdrängtes Thema ■ Von Peter Walther
Als im Frühjahr 1990 erste Artikel über die Weiternutzung der Nazi-Konzentrationslager durch die sowjetische Besatzungsmacht und über die Entdeckung von Massengräbern veröffentlicht wurden, kamen Zweifel am antifaschistischen Grundverständnis der DDR auf. Im Licht dieser Enthüllungen schien es auf einmal, daß nicht der Antifaschismus, sondern ein Gräberfeld mit den Leichen von Regimegegnern das Fundament bei der Gründung des „besseren deutschen Staates“ abgegeben habe.
Von der Existenz der Lager in der SBZ wußte man im Westen allerdings schon seit ihrem Bestehen. Dennoch fiel es zumindest seit den 70er Jahren unter das Verdikt des „Antikommunismus“, laut davon zu reden. Seitdem die selbstauferlegte taktische Zurückhaltung durch das Ende der DDR gegenstandslos geworden ist, wird die Geschichtsdiskussion um die Internierungslager in Ostdeutschland nachgeholt.
In jüngster Zeit sind zwei Bücher mit dem Anspruch erschienen, anhand von Dokumenten, Zeugenberichten und historischen Studien über die genaueren Umstände der Internierungen nach Kriegsende in Ostdeutschland aufzuklären. „Stalins Lager in Deutschland“ heißt eine Sammlung von Zeugenberichten aus den verschiedenen ostdeutschen Lagern, die von einer faktenreichen Studie zum Lagersystem in der SBZ und Beiträgen zum historischen Nachspiel gerahmt wird. Die Herausgeber, Jan von Flocken und Michael Klonovsky, umreißen im einführenden Text den geschichtlichen Hintergrund bei der Entstehung der Lager. Internierungslager für Kriegsverbrecher gab es zunächst in allen Besatzungszonen. Doch sowohl in den Umständen der Internierung als auch in der Zusammensetzung der Insassen haben sich die Lager in den Westzonen von denen in der Ostzone unterschieden.
Bei weitem nicht nur Verbrecher
Wurden im Westen vor allem höhere Nazi-Chargen und Angehörige der als kriminell erklärten Organisationen Gestapo, SS, SD usw. verhaftet, ist das System der Internierungslager von der sowjetischen Besatzungsmacht schon bald als Instrument zur Verfolgung der eigenen politischen Gegner genutzt worden. Neben wirklichen Verbrechern waren viele Mitläufer und völlig Unschuldige zu Tausenden in den zunächst elf, später nur noch fünf Lagern in Ostdeutschland zusammengepfercht. Etwa 180.000 Menschen durchliefen diese Lager, jeder dritte fand dort den Tod. Verhaftungen erfolgten oft willkürlich, gerade viele Jugendliche sind unter „Werwolf“- Verdacht von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt und eingewiesen worden. Aus Fünfeichen ist der tragikomische Fall eines Mannes überliefert, der für drei Jahre als SS-Bannführer eingesperrt wurde, tatsächlich jedoch nur S- Bahn-Führer war.
Die Lagerinsassen waren völlig rechtlos, juristische Einzeluntersuchungen gab es so gut wie überhaupt nicht. Vor allem von dieser moralisch zersetzenden Ungewißheit berichten die Erinnerungen ehemaliger Häftlinge, von dem Gefühl, nicht zu wissen, wofür man auf ungewisse Zeit und mit fraglichem Ende eingesperrt sein würde. Aber auch der ständige Hunger, die Epidemien und das Arbeitsverbot gehören zu den schlimmen Erinnerungen an die Lagerzeit. Diese Zeugenberichte werfen die Frage auf, ob an solchen Orten wie Buchenwald oder Sachsenhausen die KZ-Praxis der Nazis nicht einfach fortgesetzt wurde. Das Buch versucht, darauf eine Antwort zu geben, ohne das Leid der Nazi-Opfer gegen das Leid späterer Insassen aufzuwiegen.
Bei den sowjetischen Internierungslagern handelte es sich weder um Vernichtungs- noch um Zwangsarbeitslager. Systematische Tötungseinrichtungen wie in vielen Nazi-KZs gab es in den Speziallagern der NKWD nicht, und bestialische Folterungen, die bei den Nazis zum Alltag gehörten, waren unter der sowjetischen Regie die Ausnahme.
Obwohl eine differenzierte Bewertung die wohltuende Regel in den Beiträgen und Kommentaren von Klonovsky und Jan von Flocken ist, wirkt es an einigen Stellen doch störend, daß die Fakten und Dokumente im Ton des investigativen Journalismus präsentiert werden. Die Herausgeber, beide ehemalige Redakteure der inzwischen eingestellten Berliner Tageszeitung Der Morgen, verzichten außerdem nicht darauf, ihr persönliches Welt- und Geschichtsbild in vordergründiger Weise in den Text miteinzubringen. Unabhängig von diesen Schönheitsfehlern (zu denen der reißerische Titel gehört) ist das Buch gleichermaßen als übersichtliche Informationsquelle wie auch als Dokumentenband zu gebrauchen.
Ärgerliche Unübersichtlichkeit
Eher ein Lesebuch zum Thema stellt der Band „Sachsenhausen bei Berlin. Speziallager Nr. 7“ von Günter Agde dar. Die Mängel des Buches seien vorausgeschickt: Bei dem unterschiedlichen Charakter der Texte, der freien Ansammlung von Kassibern, Dokumenten und Studien, sah sich der Herausgeber offenbar der Aufgabe enthoben, das Material übersichtlich zu ordnen. Für den Leser ist dieses Versäumnis sehr ärgerlich, Fußnoten finden sich verstreut an verschiedenen Stellen im Band, Zwischenüberschriften sind von Überschriften typographisch nicht abgehoben, und Informationen über die Schreiber der Kassiber muß man sich aus dem Vorwort zusammenklauben. Überdies hätten dem Buch eine bessere Reproduktionsqualität der Fotos und ein abschließendes orthographisches Lektorat gut angestanden.
Das Kernstück des Bandes bilden die geheimen Häftlingsnotizen des Eisenbahners Hans Scholz, die er aus dem Lager Sachsenhausen herausschmuggeln konnte. Die Briefe haben sich im Nachlaß seiner Ehefrau gefunden – Scholz selbst hat das Lager nicht lebend verlassen. Ähnlich wie bei den Erinnerungen ehemaliger Insassen kommen auch in den Kassibern von Scholz der ständige Hunger, die Angst vor Krankheit sowie die Ungewißheit über das Entlassungsdatum vor. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Die Briefe des Internierten an seine Frau sollten – anders als die in Freiheit entstandenen Erinnerungen der Überlebenden – gleichzeitig die besorgte Familie beruhigen und zur eigenen Überlebenshilfe dienen. Deshalb bestimmt nicht die Ungewißheit über das Schicksal, sondern Hoffnung auf ein immer neues imaginäres Entlassungsdatum den Tenor der Texte. Das Wort „Hunger“ kommt in den Kassibern bis kurz vor Scholz' Tod nicht vor, dafür wird aber oft der „Appetit“ der Häftlinge erwähnt. Einmal schickt er die Skizze eines Försters mit, auf der eine vermeintlich pilzreiche Gegend eingezeichnet ist: „Eimerweise wird dort geerntet, nicht wie in unserem Wald, wo man suchen muß und nichts findet. Unter 20 Pfund geht's nicht nach Hause.“ Es wird nicht schwer gewesen sein, aus solchen Halluzinationen den wirklichen Zustand der Gefangenen herauszulesen.
Vom Gulag-Betrieb gelernt
Der dokumentarische Teil des Buchs enthält wesentliche Direktiven und Befehle des Alliierten Kontrollrates sowie des UdSSR- Innenministeriums zur Errichtung, Betreibung und späterhin zur Auflösung der Lager in Ostdeutschland. Ihnen läßt sich entnehmen, daß die organisatorischen Erfahrungen aus dem Gulag-Betrieb in der Sowjetunion gezielt angewendet wurden. Außerdem dokumentiert der Band einen Gottesdienst in Sachsenhausen mit seinem publizistischen Nachklang sowie die Entlassung der Internierten und die Auflösung des Lagers 1950. Prominentester Häftling in Sachsenhausen war der Schauspieler Heinrich George (u. a. „Hitlerjunge Quex“, „Jud Süß“, „Kolberg“). Ihm ist der biographische Beitrag von Christoph Funke gewidmet. Vielleicht ein bißchen zu anschmiegsam zeichnet der Autor das Leben des Mimen nach, der von seiner Leidenschaft nicht abließ, auch als die Nazis ihm Rassen- und Kriegshetze abverlangten.
Freilich ist Vorsicht beim Urteilen angeraten, nicht nur, wenn es um die individuelle Schuld der Gefangenen geht. In beiden Büchern haben sich die Autoren Zurückhaltung auch dort auferlegt, wo eine Beurteilung des sowjetischen Lagerregimes in Ostdeutschland anstand. Einen neuen Historikerstreit provozieren die beiden Veröffentlichungen nicht. Vielmehr treffen sich die Herausgeber in der Absicht, historische Schuld vor der Relativierung zu bewahren. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß die mörderischen Exzesse der Deutschen in der Sowjetunion es erst zur sowjetischen Besetzung Ostdeutschlands mit allen ihren Folgen haben kommen lassen. Über das neue Unrecht, was damit einherging, aus Schamgefühl zu schweigen würde allerdings auch niemandem helfen.
Michael Klonovsky, Jan von Flocken (Hg.): „Stalins Lager in Deutschland 1945–1950. Dokumentation, Zeugenberichte.“ dtv, 248 Seiten, 14,90 DM; Günter Agde (Hg.): „Sachsenhausen bei Berlin, Speziallager Nr.7, 1945–50, Kassiber, Dokumente, Studien.“ Aufbau, 271 Seiten 17,80 DM.
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