„Die töten uns täglich“

15.000 Menschen ließen auf Leipzigs Straßen die Montagsdemonstration auferstehen, doch der revolutionäre Geist blieb im Grab. „Das Volk“ 1993: Parteien und der DGB  ■ Aus Leipzig Michaela Schießl

Der Patient ist erfolgreich wiederbelebt worden. Er atmet. Aber bei Bewußtsein ist er noch nicht. „Irgendwie fehlt uns jetzt der Feind“, sagt ein älterer Mann. „Damals, im Oktober 1989, war die Montagsdemo in Leipzig Demo noch riskant, ein gefährlicher Affront gegen die Unterdrücker. Heute lassen die uns eben latschen und gut.“

Die Leipziger Montagsdemonstration, das Symbol für den Sieg des Volkes, soll auch im Frühling '93 wirken, als Allzweckwaffe gegen Fremdherrschaft. Doch die Form allein will die Spannung und Entschlossenheit von 1989 nicht zurückholen. Nur aussehen tut alles so wie früher: 15.000 Menschen sind auf der Straße. Rote Fahnen werden geschwungen. Auf dem Augustusplatz, wo 1989 „das Volk“ dem konkursen DDR-Staat den Todesstoß versetzte, werden Reden gehalten. Doch statt Hammer und Sichel prangt das IG Metall-Emblem auf dem roten Tuch. Dem Leipziger Volk wurden sicherheitshalber Gewerkschaftsaktivisten aus ganz Sachsen zur Seite gestellt. Ein Flop wie vor einem Jahr, als das Revival nur drei Wochen anhielt, sollte verhindert werden.

Verbände, Gewerkschaften, Parteien und Kirchen organisierten das, was einst „das Volk“ veranstaltete. Statt Gewandhauschef Kurt Masur spricht der IG Metall- Vertreter aus Leipzig. Nur, als Christian Führer ans Podium trat, fegte ganz kurz der Hauch von einst zwischen Oper und Gewandhaus hindurch. Der Pfarrer der Nikolaikirche war eine Leitfigur des Wendeherbstes. „Wie geht es euch, ihr Rentner, ihr Arbeitslosen, ihr Stahlarbeiter, ihr Frauen?“ fragt er. Er erhält immer nur eine Antwort. Aber eine leise.

Das Volk, das vor drei Jahren im Hoffnungstaumel alle Warnungen des Neuen Forums niederbrüllte und durch den Jubelschrei „Kohl, Kohl“ ersetzte, ist beschämt ob des Fehlers. „Leichtgläubig waren wir, haben nicht gewußt, was wir taten“, sagt eine Frau. Wie der Großteil der Demonstranten ist sie seit der Wende arbeitslos. 48 Jahre alt, hat sie alle Hoffnung verloren, Arbeit zu finden.

Aus dem blühenden Sachsen, das Helmut Kohl vor der Wahl versprochen hatte, ist eine trostlose Einöde geworden. 60.000 Arbeitsplätze gingen seit der Wende allein in Leipzig verloren, jeder zweite Leipziger ist erwerbslos.

„So können die doch nicht mit uns Werktätigen umgehen“, erbost sich ein Gewerkschaftler. Er war einer von denen, die vor drei Jahren an gleicher Stelle vehement die Wiedervereinigung gefordert haben, einer von den vielen, die Helmut Kohl wollten.

Kohl, das war das Synonym für Devisen, Marktwirtschaft, Wohlstand. Heute buchstabieren die Leipziger den Bundeskanzler anders: K wie kalt, o wie Offenbarungseid, h wie hoffnungslos, l wie leer. Wirr, abgewickelt, ideenlos, gnadenlos, ekelhaft, leichtfertig, das ist der Mann mit dem geschlossenen Geldsack: Finanzminister Theo Waigel. Und sie selber, die so gerne „ein Volk“ sein wollten mit den Wessis, sind wieder „das Volk“: „Das Ossi-Volk ist der Verlierer der Einheit“, steht auf den Transparenten, „Wieder sind wir die Opfer, erniedrigt und beleidigt“.

Kein Ton mehr von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Nur die Vertreter der PDS und eine Handvoll vermummmter Punks stimmen zaghaft in die Internationale an. Wohl aus nostalgischen Gründen. Das Volk jedoch, so scheint es, will nichts mehr hören. Weder die Signale der Vergangenheit, noch die Politikerlügen der Gegenwart. An eine Zukunft glaubt hier ohnehin keiner mehr. „Fünfzehn Jahre lang war ich in der Computerbranche tätig“, erzählt ein 54jähriger Leipziger. Gleich nach der Wende ging sein Geschäft ein, und er bewarb sich beim Computerhersteller Nixdorf. „Die haben so einen Psycho-Test mit mir gemacht. Ergebnis: Nicht geeignet.“ Zum Trost boten sie ihm an, einen Grundkurs EDV bei ihnen zu belegen, für 20.000 Mark. „Fragen Sie ihr Arbeitsamt, die zahlen das bestimmt, haben die gesagt und mich weggeschickt.“

Seither glaubt er an nichts mehr, was aus dem Westen kommt. „Besonders die, die hier sind, sind allesamt Abzocker. Schlappschwänze, Weichlinge, Nichtskönner, die drüben keinen Fuß auf die Erde bringen. Wie unser Bürgermeister hier. Ein Import aus Hannover, praktisch ein Ausländer, der nichts kapiert von Leipzigs Problemen.“ Eine Woche lang hätten die Hannoveraner gefeiert, diese Flasche endlich loszuwerden, da ist er sich sicher.

Er ist 54, sieht aus wie 60 und arbeitet bei einer Beschäftigungsfirma. Eine schöne Arbeit, aber er macht sich nichts vor: „Mich braucht hier keiner mehr. Uns alle braucht hier keiner mehr. Die töten uns täglich.“

Träge zieht sich die Demonstration den Leipziger Altstadtring entlang. Kein Sprechchor belebt den Schritt. Nur als ein paar Punks zu lärmen anfangen, ein paar Knaller in die Menge werfen, die Polizei anpöbeln und „Nazis raus“ brüllen, wacht der Troß auf. „Keine Gewalt“, rufen die Transparententräger, ganz in der Tradition der gewaltfreien Revolution von 1989, und halten den Zug an, um Abstand zu den Punkern herzustellen. „Haut ab, ihr gehört nicht zu uns, ihr Chaoten.“ Die Chaoten freuen sich: „Spießer raus“, schreien sie.

Es geht auf acht Uhr zu. Die Leipziger verdrücken sich durch die Seitenstraßen nach Hause, sich selber gucken in der „Tagesschau“. Nett war's mal wieder gewesen. Und nur keine Angst. „1989 war's zu Beginn auch so ruhig wie heute. Und der Pfarrer Führer war wieder große Klasse.“ „Tschüs bis nächsten Montag.“ Die Busgruppen versammeln sich zur Abfahrt, und die Punks geben nach zwei Minuten die Besetzung der Verkehrskreuzung auf. Etwas unzufrieden ob des wenig aufsässigen Klimas verlassen sie die Verkehrsinsel. Aber erst, als die Fußgängerampel auf Grün umschaltet.