Wundersame Kanalvermehrung

■ taz-Prognose ohne Kaffeesatz: USA-Programme werden dick wie ein Telefonbuch, doch nur „more of the same“ bieten

Im nächsten Jahr sind endlich die Zeiten vorbei, in denen sich das amerikanische Fernsehpublikum mit nur 60 Kabelkanälen langweilen mußte: Die Firma Tele-Communications aus Denver, der größte Kabel-Anbieter in den USA, hat angekündigt, daß sie in zwei Jahren eine neue Digitaltechnik einführen wird, mit der man TV-Signale „komprimieren“ kann. Auf einem Kanal können dann mehrere Programme ausgestrahlt werden. Tele-Communications wird bis zu 500 Programme anbieten.

Seither sprießen in den USA Konzepte für neue Sender wie Pilze aus dem Boden. In dem Land, in dem es schon einen Nonstop-Wetter-Kanal gibt, fehlen offenbar noch Spartenprogramme für Senioren, Heimwerker, Einwanderer... Im Rahmen eines Großversuchs im New Yorker Stadtteil Queens gibt's schon Programme in drei verschiedenen chinesischen Dialekten. In dem Kanal Romance Classics werden bald rund um die Uhr Schnulzen gezeigt und auf dem Game-Show-Channel alte Gewinnspiele recycelt.

Anders als in Deutschland finanziert sich das Kommerzfernsehen in den USA nicht ausschließlich durch Werbung. Die privaten Kabelgesellschaften verlangen Gebühren — rund 50 Dollar pro Monat — von ihren Angeschlossenen. Wer ein besonders spezialisiertes Programm will, kann es mit einer zusätzlichen Gebühr „abonnieren“.

„Noch mehr Sender, die immer das gleiche zeigen“, monierte da schon die New York Times. Woher aber wird man dann noch wissen, wo gerade das gleiche läuft? Eine Fernsehzeitung für 500 Kanäle würde wöchentlich den Umfang des Telefonbuchs von Manhattan erreichen. Verschiedene Software- Firmen arbeiten deshalb an elektronischen Programmführern, die so ähnlich wie BTX funktionieren sollen. Wenn man den Fernseher anstellt, erscheint als erstes ein Menü, aus dem man ein Genre mit der aufgerüsteten Fernbedienung anwählen kann: Science-fiction oder Börse, Fitness oder Wissenschaft. Dann wird auf dem Bildschirm eine Liste aller entsprechenden Programme sichtbar, und man entscheidet per Knopfdruck.

Außerdem werden in den USA besonders spektakuläre Sportveranstaltungen als Pay-perview- Programme ausgestrahlt: Wer sehen will, wie Riddick Bowe gegen Michael Dokes boxt, muß im Voraus 20 Dollar an die Kabelgesellschaft überweisen. In Zukunft sollen Couch Potatoes via heimischer Glotze aus einer Liste von bis zu 100 Spielfilmen wie in einer elektronischen Videothek auswählen können. Die „Leihgebühren“ werden mit der nächsten Kabelrechnung bezahlt.

Interaktives Fernsehen war schon in den späten 70er Jahren ein Traum der Linken. Douglas Kellner, Philosophie-Professor und Mitglied der seit 1978 aktiven Austin Television Group, beschwor Anfang der 80er Jahre eine „Fernseh-Demokratie“, in der lokale und nationale Fragen im Fernsehen diskutiert werden und die ZuschauerInnen die Gelegenheit zur sofortigen Erwiderung haben könnten. Nach der Debatte könnte die Wählerschaft über die Fragen abstimmen, indem sie per Knopfdruck ihre Stimme an einen zentralen Computer abgibt. Kellner sah eine Art elektronische Räterepublik nahen. Mißtrauisch wurde man erst, als ausgerechnet der Südstaaten-Populist Ross Perot im Wahlkampf mit ähnlichen Ideen hausieren ging. Die „elektronische City-Hall“ hieß seine Vision der Fernbedienungs-Demokratie. Ironischerweise soll jetzt in Zeiten, in denen die technologischen Voraussetzungen für interaktives TV existieren, diese Technik nur zu einem einzigen Zweck benutzt werden: um Spielfilme auszuwählen.

Im globalen Dorf entsteht ein Fernseh-Ghetto

PBS, das einzige staatliche Programm, das Ronald Reagan überlebt hat, muß regelmäßig bei seinen Zuschauern Spenden schnorren und kann kaum Informations- Grundversorgung bieten. Wer es sich leisten kann, wird Informations- oder Special-Interest-Programme beziehen, und auch die großen „frei zugänglichen“ Sender wie NBC, ADC oder Fox konzipieren ihr Programm für Zielgruppen, die als Publikum für Commercials interessant sind. Die anderen gucken in die Röhre, kommen dort aber nicht mehr vor.

Statt demokratische Entscheidungen zu ermöglichen, wird das Fernsehen segmentiert und individualisiert. Dabei mischen auch die privaten amerikanischen Telefongesellschaften mit. Denn mit der neuen Kompressionstechnik kann man auch über die altmodischen Telefonkabel aus Kupfer Spielfilme schicken, diese Movies on Demand könnten vom Zuschauer sogar wie ein Video vor- und zurückgespult werden. Mit den Einnahmen, so befürchten die privaten Kabelgesellschaften, werden die Telefon-Konzerne dann ihr Kabelnetz modernisieren und die Kupfer- und Glasfaserkabel ersetzen. Und über die lassen sich dann noch viel mehr Daten übertragen als über die Koaxial-Leitungen der Kabel-Unternehmen. Wer diese „Daten-Highways“ kontrolliert, wird im 21.Jahrhundert das große Geschäft machen. Denn über sie werden in Zukunft fast alle Haushalte miteinander verbunden sein, wenn man als Einsiedler im globalen Dorf seinen Einkauf über den Bildschirm erledigen kann und Bürojobs via Home-Terminal abwickelt.

Nur einen Konkurrenten müssen Kabel- und Telefongesellschaften vorher noch eliminieren: „Cellularvision“, eine Sendetechnologie, die auf einer extrem hohen Radiofrequenz Audio- und Videosignale sendet. Ihre Kapazität entspricht der von Glasfaserkabeln, braucht aber keine: Es genügt, eine kleine Antenne ins Fenster zu kleben.

Nach einem erfolgreichen Großversuch in einem Vorort New Yorks wird die amerikanische Rundfunkbehörde FCC knapp 500 Regionallizenzen vergeben. Dann wird sich zeigen, ob die 28 Gigahertz von „Cellurlarvision“ auch in dicht bebauten Innenstädten durchkommen. Doch egal welches System letztlich siegen wird, eins ist heute schon sicher: Ein Ende der wundersamen Kanal-Vermehrung ist im amerikanischen Fernsehen nicht abzusehen. Tilman Baumgärtel