Voyeur am Zufallsgenerator

Peter Handkes stummes Schauspiel „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ in Bochum  ■ Von Gerhard Preußer

Der Zuschauer ist der Fremde. Wer sich auskennt, der spielt mit, wer fremd ist, der schaut zu – im Leben. Im Theater ist der Zuschauer dagegen ein Dazugehöriger, Familienmitglied bei Musikus Miller, Höfling bei Kronprinz Hamlet. Wir kennen die Figuren, und sie vertrauen uns. Im Theater ist der Zuschauer ein teilnehmender Beobachter, der mitfühlend, mitdenkend mit den Bühnenfiguren zugleich alle Menschen kennenlernt. So verstanden erleben wir im Theater ein paar Stunden, nach denen wir mehr voneinander wissen.

Bei Peter Handkes Theaterstücken war das schon immer anders. Identifizierbare Menschen, die man hätte kennenlernen können, gab es fast nie, nur Sprecher und Schweiger, Einsager und Zuhörer. Sein jüngstes Theaterstück, im letzten Jahr von Claus Peymann in Wien uraufgeführt, ist die konsequente Fortsetzung dieser Methode, die er selbst „Oszillieren im leeren Raum“ nennt. Ein Ort, ein öffentlicher Platz, ist vorgegeben, auf ihm erscheinen Menschen und verschwinden wieder. Mehr Gemeinsamkeiten als die der Einheit des Ortes gibt es nicht. Hier wird der Zuschauer wieder, was er in der Wirklichkeit auch ist: der Fremde.

Menschen laufen über den Platz, wir kennen sie nicht und lernen sie nicht kennen. Wir beobachten sie, ausgestattet mit der Fähigkeit zu verstehen, aber ohne Wissen über sie. So bleibt uns neben der Empathie nur die Phantasie. Was ist die Geschichte dieses Paares, das sich da auf dem Platz begegnet, als ob es sich nicht kennte, und doch im Vorübergehen einander berührt, eilig verborgene Zärtlichkeiten austauscht? Ehebruch, Familienzwist? Wir wissen es nicht, und der Autor will es uns nicht sagen.

Eine fröhliche Hochzeitsszene schlägt um in Todeskampf. Der eben noch mit Reis Beworfene krümmt sich am Boden, verreckt in qualvollen Zuckungen. Nach dem Abtransport der Leiche schlendert ein anderer ahnungslos rauchend, pfeifend über die Todesstelle. Was verknüpft die gegensätzlichen Ereignisse? Der Ort – und das Auge des Betrachters. Die Einheit der Welt ist die Einheit des Bewußtseins, das sie wahrnimmt.

Hier ist auch der Autor nur Voyeur, er erschafft die Welt als Beobachter. Nichts verknüpft die Passanten auf dem Platz, keine Handlung, kein Dialog. Die kombinatorische Intention des Autors verleugnet sich. Handke spielt Zufallsgenerator. Er reiht lauter Anfänge von Geschichten aneinander, ohne sie weiterzuerzählen. Wenn wir nichts voneinander wissen, ist Begegnung, Staunen, Annäherung noch möglich. Doch der Autor und sein Alter ego, der Zuschauer, mischen sich nicht ein. Handke versucht den kurzen Moment zu bannen, wo wir einen Menschen zum ersten Mal sehen, wo ein Anfang denkbar und doch schon wieder unmöglich ist. Er hat ein minimalistisches Vorspiel geschrieben, lauter fein variierte Repetitionen eines Themas: Menschen überqueren einen Platz. Die Zuschaulust wird dabei zur permanenten Vorlust des Eckenstehers.

Nach der Wiener Uraufführung meinten einige, dies sei ein Stück, das man nur einmal inszenieren könne. Die deutsche Erstaufführung in Bochum zeigt dagegen: Ein Stück mit einer derart offenen, unendlich fortsetzbaren Dramaturgie kann man zwar nur einmal schreiben, aber inszenieren kann man es, sooft man will. Wenn ein Theater in der Lage ist, die immensen technischen Anforderungen zu erfüllen, ist der Erfolg ihm schon fast gesichert. 35 Schauspieler hasten in Bochum durch 515 Miniaturrollen, eine Meisterleistung weniger der Schauspielkunst als der theatralischen Logistik.

Johannes Schütz hat den Platz als einen grauen, tristen Durchgangsort gestaltet. In zeichnerischer Perspektive staffeln sich granitfarbene Häuserblocks hintereinander. Schwärzlich düster ist der Himmel über dem magischen Alltagsort, und hinten, hinter einer Balustrade, ahnt man das Meer, das hier nur als bleierne Wasserfläche vorstellbar ist.

Gleich am Anfang kommt eine Mannschaft von grauen Figuren auf die Bühne, wie zum „Sich-Einspielen“, heißt es bei Handke. Der letzte stolpert herein, fällt immer wieder auf die Schnauze, komisch wie ein Clown. Man sieht, sein Mund ist rot. Schminke oder Blut? Gelacht wird jedenfalls. Schadenfreude ist ein Effekt, den die Inszenierung auch später nicht verschmäht. Sie rückt dem Stück, das ja auch eine Art profanes Mysterienspiel ist, eine Ouvertüre zur Weihe des Platzes, ohne Ehrfurcht zu Leibe. Die Komik ist oft drastisch, das Tempo durchweg rasant, und immer wieder sehen wir auch Figuren, von denen wir schon alles wissen. Ein Japaner kommt auf den Platz, was tut er wohl? Die Inszenierung vergröbert Handkes augenzwinkernde Touristenkarikatur noch durch eine japanisch zwitschernde Reisegruppe im Hintergrund. Moses mit den Gesetzestafeln kommt müde vom Sinai herunter und mischt sich unter die Passanten. Er hat es sichtlich satt, diese schwere Steinplatte mit sich herumzuschleppen. Die mythischen Figuren, die Handke unter seine anonymen Alltagsmenschen geschmugggelt hat, sind alle komische Nummern, ob Tarzan an der Liane oder Äneas mit seinem Alten auf dem Rücken.

Dem Witz des Autors zeigt sich Regisseur Gosch allemal gewachsen. Aus einem Satz in Handkes minutiöser Szenenbeschreibung macht er gleich eine Serie von Massenszenen. Erst schlurft eine unendliche Reihe uralter Bettler (mit Goschs berüchtigten Rauschebärten) über die Bühne, klappert mit Eßgeschirr, krümmt sich, in Decken gehüllt, unter Gicht und Kälte. Dann kommmt hinten eine Bischofsprozession im vollen Ornat, mit Krumstab und spitzem, weißem Hut, herangekrochen: dieselben Bärte, dieselben Haltungen, dieselben senilen Bewegungen. Noch hat diese Greisenschar die Bühne nicht verlassen, kommt schon die nächste: eine Veteranentruppe, mit Standarte vorweg und einem müden Lied auf den Lippen. Auf diesen Aufmarsch der Gestrigen folgt immer noch ein schlappes Ritual. Diesmal sind es alte Bauern, die sich mit Feldfrüchten zum Erntedankfest schleppen. Gosch plagt und amüsiert uns mit dem visionären Alptraum einer vergreisten Männergesellschaft.

Gegen Ende sitzen alle am Feldweg, der quer über den Platz ausgerollt worden ist, und warten. In Bochum entsteht aus diesem Warten eine veritable Massenpanik. Ein Mann will eine Frau vergewaltigen, eine andere Frau bricht in konvulsivisches Schluchzen aus, ein junger Mann schreit und rast durch die Menge. Doch die andern beruhigen nach und nach die drei Durchgedrehten. So wird aus der Zufallsreihe doch noch ein Spannungsbogen und aus dem lakonischen Protokoll eine beredte Parabel: Alle legen sich nun einträchtig übereinander zur Stufenpyramide, über die dann einer von ihnen messiasgleich herabsteigen kann. Die Beobachtung von Alltagsszenen schlägt um in den bedeutungsvollen Traum. Keine absichtslose Aleatorik mehr, nur noch mächtige Metaphern: Zwei prächtig gekleidete Dunkelhäutige rudern auf der Barke heran und winken der Platzgesellschaft zu, doch keiner folgt. Einer will ausbrechen, doch ein anderer stellt ihm ein Bein. Schließlich bringt eine junge Frau einem Greis von biblischem Alter ein Kind, wie Hagar, die Magd, dem Erzvater Abraham. Der Alte hebt das Neugeborene in stummem Jubel hoch: Feier des Lebens, mythischer Kitsch, handkescher Schwulst, diesmal nonverbal.

Doch dann wird der Feldweg eingerollt, und wieder queren graue Gestalten den Platz, Großstadtmenschen, Unbekannte, Unbestimmte, Unbestimmbare. Schließlich erheben sich drei Zuschauer aus der ersten Reihe, steigen auf die Bühne und wollen auch über den Platz gehen. Sah der eine mit langer, zurückgekämmter Mähne (gespielt von Jochen Tovote) nicht aus wie der Meister selbst? Der Autor als Zuschauer erkennt im Zuschauer den Autor.

„Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke im Schauspielhaus Bochum. Inszenierung: Jürgen Gosch, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer. Weitere Vorstellungen: 19. und 27.3.