: Bulgarischer Dschungel aus Intrigen und Ideologien
■ Die Parteien beschwören die Mitte und driften zu den Extremen/ Über drei Jahre nach dem Sturz von Diktator Schiwkow ist eine politische Stabilisierung nicht in Sicht
Sofia (taz) – Seit 1989 gehört es zu den beliebtesten Übungen bulgarischer Politiker, sich dazu zu bekennen, im Zentrum zu stehen. Eine solche Aussage kann gleichwohl als untrüglicher Beweis des Gegenteils gelten. Mehr als je zuvor polarisieren die parlamentarischen Parteien das politische Leben Bulgariens mit ideologischem Extremismus.
Das jüngste Beispiel dafür bot am vergangenen Wochenende die „Union der Demokratischen Kräfte“ (SDS), die in Sofia ihren Nationalkongreß abhielt. Die aus 16 Parteien und Bewegungen bestehende Fraktion – seit kurzem nur noch die zweitstärkste im Parlament – hatte sich zusammengefunden, um die verlorengegangene Einheit der radikal antikommunistischen Linie zu beschwören. Am Ende blieb den Delegierten freilich kaum mehr, als die gerade dreieinhalb Monate amtierende Regierung von Ljuben Berow und den Staatspräsidenten Shelju Shelew nun auch offiziell zum Rücktritt aufzufordern und Neuwahlen zu verlangen.
Dabei beansprucht die SDS seit ihrer Gründung im Dezember 1989 die Rolle einer pragmatischen Zentrumskoalition. Doch schon während ihrer Regierungszeit beschränkte sich die Politik der SDS im wesentlichen auf einen rigiden Antikommunismus. Der bediente sich nicht selten genau der Mittel, die zu bekämpfen er vorgab.
Andererseits trieb die „Union der demokratischen Kräfte“ einzig die sogenannte Restitution voran: Rückgabe des von den Kommunisten nach 1947 kollektivierten Eigentums an die Nachkommen der ehemaligen Besitzer, die eine einflußreiche Lobby in der Koalition bilden. Die Vielzahl von Antragstellern und der langwierige Rückgabeprozeß verhinderten eine Privatisierung des Kleineigentums und der Landwirtschaft. Letztere ist bis heute nicht abgeschlossen und hat Bulgarien zu umfangreichen Lebensmittelimporten gezwungen.
Noch bevor Ende Oktober letzten Jahres die SDS-Regierung unter Ministerpräsident Filip Dimitroff stürzte, hatte sich die Koalition mit ihrem einstigen Mitbegründer, Staatpräsident Shelju Shelew, überworfen. Shelev hatte zunehmend den fehlenden Pragmatismus Dimitroffs beklagt.
Ausschlaggebend für den Sturz der Regierung war schließlich der Rückzug der „Bewegung für Rechte und Freiheit“ (DPS) aus der lockeren Koalition mit den Demokraten. Die Vereinigung der türkischen Minderheit in Bulgarien hatte Filip Dimitroff seit Monaten seine monetaristische Sparpolitik vorgeworfen. Sie hatte bei den 630.000 Türken, die bis dahin in Bulgarien lebten, zu einer rapiden Verschlechterung ihrer sozialen Situation und zu einer zweiten großen Auswanderungswelle geführt. Die DPS sah sich so in Gefahr, einen wesentlichen Teil ihrer Wahlklientel zu verlieren.
Sie nominierte schließlich auch die jetzige Regierung des parteilosen Ökonomen Ljuben Berow, nachdem ein Versuch des sozialistischen Koalitionsblockes, eine Regierung zu bilden, gescheitert war. Doch schon wenige Wochen nach ihrem Amtsantritt am 31. Dezember vergangenen Jahres spekulierten Politiker aller Couleur bereits über einen Sturz der Regierung – bereits die vierte Bulgariens seit der Entmachtung des Langzeitdiktators Todor Schiwkow am 10.November 1989.
Ljuben Berow, der eher profillos und politisch wenig bewandert erscheint, war mit dem Slogan „Regierung der Privatisierung“ und einem ehrgeizigen Reformprogramm angetreten. Unter Druck setzte den Regierungschef zunächst die mächtige syndikalistische Gewerkschaft „Podkrepa“, deren Chef Konstantin Trenchew offen politische Ambitionen hegt. Ihm werden intensive Verbindungen zum Organisierten Verbrechen nachgesagt.
Die Demokraten warfen Berow ihrerseits vor, Restaurator der kommunistischen Macht zu sein und eine Diktatur der Gewerkschaft zuzulassen. Auftrieb erhielten die antikommunistischen SDS- Hardliner dadurch, daß eine moderate Gruppe von 18 Abgeordneten die Fraktion verließ. Sie hatten sich offen gegen die eigene Fraktion gestellt und für die Unterstützung der Regierung plädiert. Vergangene Woche erklärten sie sich zur eigenständigen Fraktion unter dem Namen „Neue Union für Demokratie“ und verwiesen die SDS, die bis dahin mit 110 Abgeordneten die stärkste Kraft im Parlament war, auf Platz zwei nach den Sozialisten.
Deren Koalitionsblock unter dem Namen „Bulgarische Sozialistische Partei“ (BSP) stellte ihre Unterstützung für Ministerpräsident Berow im Falle unpopulärer ökonomischer Maßnahmen gegen ihre hauptsächlich ländliche Wahlklientel ebenfalls in Frage. Dabei hatte die BSP am 31. Dezember noch zusammen mit der DPS für Berow gestimmt.
Verwickelt gestaltet sich die neue und halbherzige Allianz durch die unter den Sozialisten weit verbreiteten Ressentiments gegen die türkische Minderheit, die von der DPS vertreten wird. Vor dem Hintergrund der 500 Jahre währenden osmanischen Herrschaft in Bulgarien, die erst im Jahr 1878 endete, betrachten viele Bulgaren die türkische Minderheit bis heute als fünfte Kolonne Ankaras.
Die BSP-Koalition, in deren Parlamentsfraktion sich unter anderem die ultranationalistische „Vaterländische Arbeitspartei“ (OPT) befindet, ging – getreu der antitürkischen Bulgarisierungspolitik ihrer kommunistischen Vorgänger – mit nationalistischen Parolen gegen die Türken hausieren.
Die DPS hat zwar seit ihrem Bestehen immer wieder eine integrative, im Interesse Bulgariens handelnde Politik betrieben und mitgeholfen, die türkisch-bulgarischen Beziehungen zu normalisieren. Daß sie bei den letzten Wahlen im November 1991 zum Zünglein an der Waage wurde, weil weder Sozialisten noch Demokraten die absolute Mehrheit erreichen konnten, trug ihnen jedoch Mißtrauen und den Vorwurf ein, die nationale Sicherheit Bulgariens untergraben zu wollen.
Solche Verdächtigungen hat die DPS durch ihren eiligen Allianzwechsel zu den Sozialisten noch genährt. Der erscheint um so paradoxer, als die BSP in milderer Form auch weiterhin eine antitürkische Stimmung schürt. Hinzu kommt, daß Mitglieder der DPS-Fraktion sich offenbar auch weiterhin einen künftigen Weg mit den Demokraten offenhalten wollen und deshalb die derzeitige Liaison mit den Sozialisten gelegentlich zur Disposition stellen.
Angesichts dieses Dschungels aus Fronten, gegenseitigen Beschuldigungen und Intrigen ist es kein Wunder, daß sich in der bulgarischen Bevölkerung eine tiefe Abneigung gegen alle Politik breitgemacht hat. Die ohnehin drastische Verarmung im Land nimmt durch den immer schnelleren Verfall der Wirtschaft noch zu.
Eine pragmatische politische Kraft, die Wirtschaftsreformen zum Erfolg verhelfen könnte, ist nicht in Sicht. Knapp dreieinhalb Jahre nach dem Sturz Schiwkows ist Bulgarien von einer politischen Stabilisierung weit entfernt. Keno Verseck
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