Anstelle des Ganzen

Max Missmanns „Berliner Plätze“  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Plätze und ihre Fotografien sind zweierlei. Der Platz ist visuell die Öffnung der Stadt, technisch der Ort höchster Dichte. Max Missmann wird gewußt haben, daß sich der Platz im Gehen erschließt, in der Fahrt oder in der Beobachtung der Bewegung: Wahrnehmungen, von denen der Fotograf sämtlich ausgeschlossen ist. Seine Aufnahmen sind liebevolle, detailversessene „Rekonstruktionen“ dessen, was zu sehen war: In einem zarten Schwenk umfährt die Tram den Südflügel des U-Bahnhofs am Wittenbergplatz, wie Zuckerguß glänzen die prächtigen Fassaden am Barbarossaplatz in Schöneberg, und in den nassen Fahrspuren der Straßenbahn am Hamburger Platz in Friedenau fängt sich der silbergraue Himmel, als fände man im Straßenbelag einen Schlitz in die Unterwelt.

Max Missmann, 1874 in Kreuzberg geboren und 1945 dort gestorben, eröffnete sein Atelier 1903 und verkaufte, bevor das Atelier ein Jahr vor seinem Tod durch einen Bombenangriff zerstört wurde, allein über 1.000 Fotografien an das Märkische Museum, aus dessen Bestand das Buch im Argon-Verlag, „Berliner Plätze“, offenbar erstellt ist. Die Fotografien sind so unterschiedlich wie die Plätze, das Wetter, die Zeit der Aufnahme; sie geben noch den Blick frei auf das königliche und kaiserliche Berlin – die Pracht der Promenaden und Bürgerplätze, konterkariert durch monumentale steinerne Anlagen und finstere stählerne Reiter.

Die repräsentativen Plätze der alten „Mitte“ dienten als Wochen-, Korn- und Fischmärkte und wurden ansonsten von den in der Umgegend einquartierten Regimentern zum Exerzieren benutzt, wie Hans-Werner Klünner in seinem Vorwort zur Geschichte der Berliner Plätze schreibt. Etliche Plätze, die in den Plänen Lennés vorgesehen waren und realisiert wurden, gibt es heute noch (wie den Mariannenplatz in Kreuzberg); und die meisten Plätze, die einst große Kreuzungen waren, sind verschwunden.

Missmann hat sich auf die Plätze eingelassen, ihnen im Fotografieren einen Status verliehen. Den fürchterlichen Rolandbrunnen auf dem Kemperplatz, ein Geschenk Kaiser Wilhelms II. an die Stadt Berlin, verziert er mit einer aufgeputzten Sonntagsgesellschaft, die genauso vergangen ist wie der Brunnen (Perspektive: Bauchnabel). Den Blick auf den betriebsamen Moritzplatz (allein fünf Straßenbahnen sind unterwegs) richtet der Fotograf an der Oranienstraße aus, die das Querformat als nach unten versetzte Diagonale schneidet; die Sicht aus dem dritten Stock zeigt den Platz als Gehäuse, als urbanes Gefüge. Den Oranienplatz, gleich nebendran, zeigt der Kreuzberger als verträumtes Panorama, Flußidyll (Aufsicht).

Die letzten beiden Beispiele zeigen, wie problematisch die Kategorie „Platz“ ist: Der Moritzplatz war, nach der Zerstörung der homogenen Bebauung, zum Kreisverkehr vor dem „Übergang“ zum Osten geworden, die Erinnerung zersplittert bis auf das (durch die „wilden“ Maler) dann berühmte letzte Haus am Moritzplatz, ein stehengebliebener Backenzahn eines Wesens, das es nicht mehr gibt. Tatsächlich glaubt man auf Missmanns Aufnahme zuerst den heutigen Heinrichplatz zu sehen, dessen Anlage im Verhältnis zur Oranienstraße noch besteht. Der Oranienplatz dagegen war im spätkaiserlichen Berlin dominiert vom Luisenstädtischen Kanal, der 1926 zugeschüttet wurde und somit das jetztige große Verkehrs-Ei möglich machte. Das frühere Kaufhaus Maaßen steht ja immer noch da, wie eine Trutzburg am Eingang von SO 36.

Max Missmann war ein Architekturfotograf der alten Schule, Kenner der grandiosen Standpunkte und ihrer Tücken, piktorialer Baumeister in der Ausrichtung der Kamera (an der Vertikalen: keine stürzenden Linien). Missmann weiß, daß der Platz und seine Fotografie zweierlei sind, daß das „Ganze“ eines Platzes im Foto nicht zu haben ist. Er fotografiert die Plätze metonymisch, Pars pro toto. Das Grün vor dem Ostbahnhof oder (in etwa erhalten) am Senefelder Platz zeigt er als dunklen Keil in der Stadt; die Fläche des Werderschen Markts wird fast papiern, indem der Fotograf die am Kopf des Platzes verlaufende Straße in den Schatten verlegt; und am Steinplatz streift das Seitenlicht wie zufällig das im Bild zentral platzierte (ja, platzierte) bürgerliche Prachthaus an der Ecke Carmerstraße – etwas von immerwährendem Sonntag.

Es ist nicht leicht, dieses Buch zu entschlüsseln, in dem mehrere vergangene Städte und die Vorläufer des Erhaltenen sich überlagern. Allerdings sind die Bildlegenden umfangreich und wechseln geschickt, nach Lage der Dinge, den Standpunkt des Kommentars. Ein Kartenteil im Anhang hätte die Orientierung für die Nachgeborenen allerdings erleichtert. Die Fotografien, in den Vorlagen von schwankender technischer Qualität, sind im Duoton-Verfahren überzeugend wiedergegeben und offensichtlich nicht elektronisch geglättet worden. Die Mühen der Arbeit bleiben spürbar.

Hans-Werner Klünner: „Berliner Plätze“, Fotografien von Max Missmann. Mit einem biographischen Nachwort von Wolfgang Gottschalk. 140 Seiten, 68 DM.