■ Schwierige Wahrheitsfindung
: Lager und Legenden

„Sind Sie von der Presse?“ Aufgeregt wandte sich eine Frau an einen Fotografen, der gestern morgen zufällig an der Abfertigungsstelle für Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien am Waterloo-Ufer stand, um sodann, noch aufgeregter, folgende Geschichte zu berichten: „Da sind gerade zwei Frauen von der Polizei zusammengeschlagen worden. Ein Krankenwagen mußte sie abholen.“ Aha, schon wieder: Böse Polizei schlägt gute Ausländer! Ein Fall für die taz. Die Redakteurin, vor Empörung bebend, ruft die Polizeipressestelle an.

„Ach ja“, meint dort eine Sprecherin, „auf dieses Pferd hüpfen derzeit alle.“ Ihrem Tonfall schon ist anzuhören, wieviel Lust sie verspürt, bei der Aufklärung des Vorfalls mitzuhelfen. Aber man soll die Menschen nicht vor dem Abend beschimpfen, eine Stunde später hat sie wirklich etwas herausbekommen. Den Vorfall schildert sie, ziemlich wortwörtlich, folgendermaßen: „Da gab es eine junge Frau in der Warteschlange, die einen Schwächeanfall bekam. Sie brach zusammen, wahrscheinlich weil sie dort schon seit drei oder vier Uhr morgens angestanden hat. Keiner von den Ausländern dort hat sich um sie gekümmert, die sind einfach über sie rübergestiegen. Die waren wahrscheinlich sogar froh, daß einer weniger in der Schlange stand. Das hat ein Polizeibeamter gesehen. Er kletterte über die Absperrungsgitter, brachte sie ins Haus und rief den Notarzt.“ Aha: Gute Polizei rettet Frau vor bösen Ausländern! Ein Fall für das Bundesverdienstkreuz. Die Redakteurin, vor Rührung bebend, schneuzt heimlich ins Taschentuch.

Scherz und Laune beiseite: Was wirklich am Waterloo-Ufer passierte, wissen wir nicht – beide Versionen sind möglich. Uns bleibt nur das kleine Lehrstück, wie schnell in jedem Lager die Legenden und Lügen sprießen können: Die einen vermögen nur noch prügelnde Bullen zu sehen, die anderen nur noch trampelnde, keilende, rücksichtslose Ausländer. Eine Geschichte, die im Deutschland des Jahres 1993 nicht nur für menschliche Borniertheit steht, sondern auch für gesellschaftliche Konfrontation. Ute Scheub