Die Bierorgel der Avantgarde

Unendliche Möglichkeiten oder Die (mindestens!) zwei Seelen des Akkordeonisten Guy Klucevsek  ■ Von Christoph Wagner

Am Seiteneingang eines Theaters am Upper Broadway wollten wir uns treffen. Es war etwas spät. Trotzdem blieb eine knappe Stunde Zeit, bevor seine Probe begann – als Akkordeonspieler im Musikensemble von Brechts „Dreigroschenoper“. So also verdient die New Yorker Avantgarde ihre Brötchen! Als musikalische Proletarierdarsteller! Wir gingen in ein nahegelegenes Café.

Brecht ist bloß sein Werktagsjob. Sonntag war immer, wenn er mit John Zorn spielte. Guy Klucevsek war Mitglied in dessen „Cobra“-Formation, einer Art All-Star-Band der Underground- Szene von Downtown Manhattan Mitte der achtziger Jahre. In diesem Ensemble versuchten ein Dutzend Musiker (darunter Arto Lindsay, Wayne Horvitz, Bill Frisell und Elliott Sharp) unter der Anleitung von Zorn aus den Elementarteilchen der akustischen Welt neue klangliche Substanzen zu gewinnen. Die Möglichkeiten seien prinzipiell unendlich – so die Vorstellung.

Wenn Guy Klucevsek „live“ mit dem „Cobra“-Ensemble spielte, wirkte er immer ein bißchen verloren zwischen all den Samplern, elektronischen Keyboards und Elektro-Gitarren – nur die Harfenspielerin hatte mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Wenn die Soundlawinen niedergingen und Lärmschwaden von der Bühne kamen, wurde er fast kleinlaut mit seinem altmodischen Instrument: In diesem hochelektronischen Kontext hatte die alte Ziehharmonika wenig zu melden. Ihr kam allenfalls die Aufgabe zu, auf melancholische Weise die Erinnerung an Zeiten wachzuhalten, in denen Musik noch nicht elektronisch erzeugt wurde. Das falsche Instrument am falschen Ort?

Während wir einen Cappuccino trinken und in die Hochsommersonne hinausblinzeln, spricht Guy Klucevsek über das Revival des Akkordeons durch die Ethnomusik. Madagaskar, Kolumbien, Panama – er gerät ins Schwärmen. Vermutlich hat er den Widerspruch schon damals gespürt, von dem er mittlerweile offen spricht: die Diskrepanz zwischen der Musik, die er machte, und der Musik, die er sich daheim anhörte.

Klucevseks musikalische Praxis war bestimmt von der Klanglichkeit der E-Musik-Neuerer, für die er auf der Universität ein Faible entwickelt hatte: Ligeti, Xenakis, Morton Feldman. Dazu gesellten sich später die Erfahrungen aus den Lärm-, Sound- und Geräuschexperimenten der New-Music-Radikalen New Yorks. Dabei handelte es sich jeweils um Kunstmusik in Reinkultur, verortet im Koordinatensystem einer absoluten Ästhetik, die auf keinerlei außermusikalische Zwecke Rücksicht zu nehmen brauchte.

Dem gegenüber stand die „andere“ Musik, die Klucevsek schon in Kinder- und Jugendtagen in seiner slowenischen community in West-Pennsylvania kennengelernt hatte. Jeden Sonntag trällerte „The Happy Slovene Hour“ aus dem Radio. Dort wurden Polkas und Walzer aus der alten Heimat gespielt und Bierlieder, in denen das Akkordeon den Ton angab. Während er sich im Musikunterricht mit Akkordeon-Transskriptionen klassischer Musik herumquälte, flippte er abends mit seiner Schulband aus, für die er Twists und Cha-Cha-Chas von Schallplatten und aus dem Rundfunk abnotierte. Das waren Klänge und Melodien, die nur zum Leben erwachten, wenn dazu getanzt wurde. Gebrauchsmusik. Ohne Publikum machte sie keinen Sinn.

Dieser Riß, der seine Biographie von Anfang an durchzog, war auch auf dem ersten Soloalbum von 1987 zu spüren. Klucevsek ging in den Spagat. Minimalistische Tonwolken, atonale Klangballungen und dissonante Cluster sahen sich tanzhaften Walzerrhythmen und melancholischen Musettemelodien gegenüber, mit denen vorsichtig die Fühler in populäre musikalische Gefilde ausgestreckt wurden. So klar war ihm das anfangs wohl selbst nicht. „Lange Zeit bedeutete ,ernsthaft‘ Akkordeon zu spielen für mich, einen weiten Bogen um alle Akkordeon-Stereotypen zu machen. Alle traditionelle Akkordeonmusik hatte ich ungefähr 15 Jahre lang verstoßen.“

Die musikalische Schizophrenie des amerikanischen Handharmonikavirtuosen spiegelt auf eigentümliche Weise auch die gebrochene Identität des Akkordeons als Musikinstrument. 1829 in Wien erfunden, wurde es bald das bevorzugte Instrument der Unterklassen im Zeitalter der Industrialisierung. Vom bürgerlichen Publikum verachtet, fand es sein Zuhause in Dorfgasthäusern und Vorstadtkneipen, wo derbe Unterhaltung bei Tanz und Gesang gefragt war. Ab Ende der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts gab es Anstrengungen, aus der „Bierorgel“ ein „seriöses“ Konzertinstrument zu machen. Der unumstrittene Marktführer der Branche, die Firma Hohner aus Trossingen in Württemberg (die zu diesem Zeitpunkt jährlich rund eine halbe Million Handharmonikas weltweit verkaufte), bemühte sich, anerkannte klassische Komponisten wie etwa Paul Hindemith für Originalkompositionen für das Akkordeon zu gewinnen.

Um sich von diesen „Veredelungstendenzen“ abzusetzen, probte Klucevsek mit seinem 1988 gestarteten Projekt „Polka from the Fringe“ den Salto rückwärts. In einem akkordeonistischen Rollback wollte er die Entwicklung zurückdrehen, in einer Art Flucht aus der Dürre der akademischen Kunstmusik beim prallen Leben originärer Akkordeonklänge anlangen. Von einigen seiner Musikerkollegen aus der amerikanischen Avantgarde – Tom Cora, Carl Stone und Bobby Previte, um nur einige zu nennen – ließ er sich Tanznummern komponieren, Polkas und Pseudo-Polkas, mit denen er sich seiner lange Zeit verleugneten Biergarten-Seele zu nähern versuchte. Daß es sich bei dieser musikalischen Haltung um eine heikle Angelegenheit handelte, war ihm bewußt. Den Elfenbeinturm der Avantgarde hatte er verlassen, aber der Weg zurück in den Naturgarten der Volksmusik war ihm durch seine akademische Bildung verwehrt.

Als Renegat kann man leicht zwischen alle Stühlen fallen. „Es wäre völlig vermessen zu versuchen, die traditionelle Akkordeonmusik authentisch zu spielen, da ich nicht Teil der Kultur bin, aus der sie stammt“, reflektiert Klucevsek sein Dilemma. „Wenn ich heute wieder Lied- und Tanzformen verwende, klingt es deshalb nicht wie Folk oder Pop, weil ich sie – was die Spieltechniken anbelangt – in klassischer und avantgardistischer Manier spiele.“

Allerdings sieht es so aus, als hätte Klucevsek auf dem Weg zum Tanzboden auf halber Strecke Angst vor der eigenen Courage bekommen. Das legen wenigstens die zwei CDs nahe, auf denen sein gesamtes Polka-Programm im letzten Jahr erschienen ist. Zwiespältige Angelegenheiten: Als Tanzmusik wirken die Nummern intellektuell zu überladen. Anstatt forsche Rhythmen anzuschlagen und die Melodien runterzufetzen, sind in die Titel schon die Dementis miteingebaut. Mit Verfremdungsmätzchen und verqueren Taktwechseln wird das Triviale relativiert und die Distanzierung vollzogen. Dem Projekt bekommt das nicht. Wenn schon Polka, denn schon Polka!

Die Halbheiten werden auf einer weiteren Neuerscheinung fortgesetzt: „Flying Vegetables of the Apocalypse“. Das zentrale Stück „Union Hall“ ist die unfreiwillige Miniatur von Klucevseks musikalischem Dilemma. Ein Potpourri, zusammengesetzt aus vielerlei Melodien von Ethnomusiken der ganzen Welt. Das ist geschickt gemacht, ausgeklügelt instrumentiert und brillant musiziert. Die vertrackten Rhythmen werden gekonnt ineinander geflochten, so daß keine Durchhänger entstehen. Auch was die Titelauswahl anbelangt, beweist Klucevsek Geschmack, und daß die Begleitmusiker keine zweite Wahl sind, versteht sich fast von selbst: Der Saxophonist und Klarinettist Doug Wieselman ist ein wunderbarer Melodiker, während sich Bassist Lindsay Horner mit bemerkenswerter Geschmeidigkeit zwischen den komplexen Takt- und Harmoniewechseln bewegt.

Trotzdem ist der Nachgeschmack nicht der feinste. Nie erreichen die Bearbeitungen den magischen Punkt der Originale, stets bleiben sie ein matter zweiter Aufguß. Klucevsek hat sich eben nicht entscheiden können zwischen radikaler Avantgarde und wilder Volksmusik, und gerade deshalb landet er am Ende bei der gehobenen Unterhaltung, bei weichgespielter roots music.

Platten von Guy Klucevsek: „Scenes from a Mirage“; Recommended No Man's Land Records (Pf. 110449, 8700 Würzburg)

„Polka Dots & Laser Beams“; 99-Records (Gierkezeile 26, 1000 Berlin 10)

„Who Stole the Polka?“ 99-Records

„Flying Vegetables of the Apocalypse“; Recommended No Man's Land Records