Das Recht zu schweigen

■ betr.: "'Schreibtschhenkern' zum Opfer gefallen", "Sich selbst im Weg", taz vom 8.3.93

betr.: „,Schreibtischhenkern‘ zum Opfer gefallen“ (Heftige Reaktionen auf Christa Wolfs Austritt aus den Akademien der Künste), „Sich selbst im Weg“ (Kommentar von Christian Semler),

taz vom 8.3.93

Da schauen wir Westlerhelden, Sieger der Geschichte, in den Spiegel: endlich allein! Auch wir sind öfter einmal der Macht begegnet, und sie war schön und elegant wie Gabriele Henkel. Sie hat nicht billige Kunstlederjacken getragen und sich in Hinterzimmern mit abscheulichen Tapeten in kaltem Zigarettenrauch herumgedrückt.

Christa Wolf muß sich äußern? Sie muß sagen, warum sie aus den beiden Akademien für Musterkinder ausgetreten ist? Es hat jemand, es haben vielleicht wir alle ein Anrecht darauf, daß sie sich äußert? Vielleicht ein kleiner Schauprozeß gefällig? Wir haben ja noch keinen gehabt, und wir wollen doch immer etwas haben, was wir noch nicht gehabt haben. Vielleicht gefällt es uns ja. Es ist ja wie im Fernsehen, weil es so lebendig ist! Und wie lustig ist es doch, in Menschenfleisch ein bißchen herumzuwühlen. Sich hineinbohren kann auch ganz nett sein.

Kommt denn niemand auf die Idee, daß eine Frau mit diesem vereinzelnden, vereinsamenden Beruf und in diesem Alter einfach ihre Ruhe haben möchte, weil sie vielleicht noch etwas schreiben will? Wir haben doch auch immer unsere Ruhe gehabt.

Die Opfer haben jedes Recht, zu sprechen (oder auch: nicht zu sprechen). Und wir müssen ihnen zuhören, obwohl wir natürlich lieber den schönen, jungen und gut mit Fön frisierten Menschen zuhören, vor deren Berührung wir uns jederzeit mit dem Plastikschutz eines TV-Schirms bewahren können.

Christa Wolf aber hat das Recht zu schweigen. Elfriede Jelinek,

Wien/Österreich