Tanz die Ur-Kommune!

■ John Neumeiers Choreografie der Matthäus-Passion wieder im Michel

wieder im Michel

Ist es das Ende oder ist es der Anfang? Vier Tänzer haben sich bei den Händen gefaßt und gehen im Kreis, bis ein fünfter kommt, ein sechster, die sich einreihen. Schließlich sind es zwanzig. Zehn Frauen, zehn Männer. Die Erzählung von der Passion Christi endet so, wie sie begann: mit der Schar der Gläubigen, der Gemeinde, der Christen.

Als John Neumeier 1980 Bachs Matthäus-Passion vertanzte und seine Choreografie im Hamburger Michel zur Aufführung brachte, wurden manche Zweifel laut, ob diese Tat denn eine Wohltat sei im Angesichte des Herrn — das Programmheft ist voll von Selbstverteidigungen. „Darf“ man Bach tanzen, darf man Jesus tanzen, darf man das in einer Kirche tun? Abgesehen von den erwägenswerten Argumenten der Beteiligten, kann nur das Experiment selbst die gültige Antwort darauf geben.

Der große Erfolg hat dem Kult- Choreografen John Neumeier und dem Dirigenten Günter Jena recht gegeben. In diesen Tagen ist die Choreografie, nach Jahren in der Staatsoper, an ihren Ausgangsort zurückgekehrt: in den Michel. Nicht daß die Aufführung durch den sakralen Raum bestimmt würde, vielmehr wird damit eine entschiedene Negation des funktionalen Theaterraumes vollzogen.

Die ursprünglich in den Gottesdienst eingebettete Aufführung einer Passion wiederholt sich hier als Fest der Gemeinde, als Fest der Kunst, als Kultus. Das Erlebnis der Kommunität enthüllt seinen verwandtschaftlichen Charakter zum revolutionären Kommunismus, zur Kommune.

Der unpathetische, aus klassischen und modernen Elementen geformte Gestus schafft einen Symbolraum, der alle falsche Künstlichkeit vernichtet und der das Goldlametta hanseatischen Protestantismus plötzlich albern und überflüßig werden läßt. Gibt es Gott?

Die Aufführung ist keine Mission, Ungläubige zu bekehren. Sie erzählt eine Geschichte fast auf brechtsche Art. Sie zeigt Verwandlung und Lösung, Identifikation und Reflexion im Nach- und Nebeneinander des künstlerischen Vollzugs.

Allein die doppelte Sprache des tänzerischen Zeichensystems — in bezug auf Bach, in bezug auf den Inhalt — vermittelt eine ästhetische Erfahrung, von der gesagt sein mag, sie sei eine religiöse.

Martin Koziullo

Heute 18 Uhr, Michaeliskirche