Soziale Frage Gretchenfrage der Demokratie

■ Roswitha Erlenwein fordert "Solidarpakt der Sozialpolitiker" / Staatsrat Hoppensack: "Armut verschwindet nicht"

Soziale Frage Gretchenfrage der Demokratie

Roswitha Erlenwein fordert „Solidarpakt der Sozialpolitiker“ / Staatsrat Hoppensack: „Armut verschwindet nicht“

„Wer glaubt, alles ist in Ordnung, der hat sich geschnitten. Armut ist nicht zu übersehen, es ist eine Illusion, das Problem zum verschwinden zu bringen.“ Hans-Christoph Hoppensack, SPD-Mann und Staatsrat für Jugend, Gesundheit und Soziales, war neben Roswitha Erlenwein (CDU) und den beiden Verfassern des Bremer Armutsberichtes, Ekke-Ulf Ruhstrat und Volker Busch-Geertsema, zur Podiumsdiskussion ins Cinema geladen. Neben durchweg positiven Worten zu Aufbau und Intention des Films „Im Westen alles nach Plan“ drehte sich ihre Debatte unter anderem um das Thema Grundsicherung, Mißbrauch von Sozialleistungen und die Aufgaben von (Sozial-)Politik.

Im ihrem Film fordern die Autoren provokativ 1.500 Mark Grundsicherung, 300 Mark mehr als die Grünen. Das Thema Grundsicherung löse das Problem Armut nicht, beteuerte Sozialpolitikerin Erlenwein. Das Geld helfe unter Umständen zwar, den Betroffenen die „Ämtergänge zu reduzieren“. Möglichkeiten, in Armut zu geraten, würden dadurch aber nicht beseitigt. Auch Staatsrat Hoppensack wandte sich gegen derartige „Träume“: Mit Geld „kann man keine autonome Persönlichkeit herstellen“, meinte er, zumal dadurch Abhängigkeit geschaffen würde — „und wenn es von der Behörde ist, die das Geld auszahlt.“

Roswitha Erlenwein hatte in dem Film aber auch die Kinder entdeckt. „Was wird aus denen, die dort unter den Wäscheleinen spielen?“ fragte sie nach deren Zukunftschancen und behauptete, Geld helfe da nicht. Umgehend erhielt sie aus dem Publikum die Quittung für diese Äußerung: Das könne sie, gerade als Politikerin, doch wohl nicht vertreten wollen! Sie versucht zu erklären, wie kompliziert die Zusammenhänge... Erneuter Widerspruch: „Politisch kompliziert ist nur, eine neue Eigentumsverteilung durchzusetzen.“

Als Vertreterin der Regierungspartei mußte Roswitha Erlenwein sich heftige Kritik anhören. Ihre Politik sei schließlich mitverantwortlich, daß Armut in Deutschland mittlerweile so viele Menschen betrifft. „Die Sozialgesetzgebung stammt aus CDU-regierten Zeiten“, erinnerte Erlenwein unterdessen. Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sei ein gutes Gesetz. Allerdings sei es lediglich als Überbrückungshilfe gedacht gewesen, diene inzwischen aber als Einkommensersatz.

Daß viele in dieses Netz fallen und bis an ihr Lebensende nicht mehr hinaus kommen, obwohl sie sich „ganz normal“ den Anforderungen des Lebens in dieser an Ökonomie und Arbeit orientierten Gesellschaft gestellt haben, zeigte der Film überdeutlich: Mit den Frührentnern, deren Einkommen zum Leben nicht ausreicht, mit dem Aldi-Filialleiter, der nach dem Weglaufen seiner Frau in Obdachlosigkeit und Alkohol abrutschte, mit dem Familienvater, der sich in Akkordarbeit einer Batteriefabrik die Gesundheit ruinierte und es von 5.000 Mark Monatseinkommen zum Sozialfall brachte usw.

„Beamte der unteren Laufbahn werden bald ergänzende Sozialhilfe beantragen müssen“, prognostizierte Walter Schuck, vom Landesvorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Solange Löhne und Gehälter linear steigen, würde die Schere sich zwangsläufig vergrößern. Schuck forderte von Politik klare Zielvorstellungen ein und kritisierte, daß selbst höchstrichterliche Entscheidungen im Gegensatz noch zu den 60er Jahren politisch nicht mehr umgesetzt würden. So habe beispielsweise das Bundesverfassungsgericht 1990 festgestellt, daß der Kinderlastenausgleich nicht verfassungsgemäß sei — doch der Gesetzgeber negiere oder verschleppe das.

„Die Politik hat doch kaum noch Einfluß auf den Arbeitsmarkt“, ergänzte Filmemacher Clahsen. Wenige Manager würden heute doch unkontrolliert darüber entscheiden, wie Arbeitsplätze entstehen oder zerstört werden. Und trotz über drei Millionen Arbeitsloser gäbe es keine Aufstände. Clahsen: „Es wird sich erst etwas ändern, wenn aus dem einen Drittel der Benachteiligten die Mehrheit zu werden droht.“ Und um all diejenigen an dieser Grenze müsse Politik sich kümmern: „Die haben Angst, und die werden die REPs wählen.“ Für Clahsen ist die soziale Frage deshalb die Gretchenfrage der Demokratie.

Sozialpolitik hat jedoch keine Konjunktur, sie steht, darin waren sich die Sozialpolitiker einig, „am Rande“ wie die Menschen, um die es ihr geht. „Wir brauchen einen Solidarpakt der Sozialpolitiker“, forderte Roswitha Erlenwein und legte sich für die Mißbrauchsdebatte ins Zeug: „Weil ich die Diskussion offensiv führen will. Ich will den Mißbrauch bei allen ausschließen — auch bei Steuern und Subventionen“, denn dort sei er viel größer als bei Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen. ra

„Das macht die Seele so kaputt...“ Armut in Bremen, Hrsg. Volker Busch-Geertsema, Ekke-Ulf Ruhstrat u.a., Edition Temmen, 1993 (1. Armutsbericht der Freien Wohlfahrtsverbände Bremen)