Über die Rettung der Ironie

Gibt es eine deutsche Nation?  ■ Von Karl Heinz Bohrer

Am 4. und 5. Marzo trafen sich deutsche und italienische Soziologen, Historiker, Philosophen und Politiker zu einem Symposion namens „Deutschland nach der Vereinigung“ in Rom. Wir dokumentieren Karl Heinz Bohrers Vortrag.

Ich möchte keine historische, sondern eine sprachkritische Antwort auf diese Frage suchen, indem ich die Semantik des Begriffs Nation in Differenz zum Begriff Volk diskutiere. Daraus lassen sich gewisse Schlüsse für die gegenwärtige Situation ziehen.

Die Grundthese lautet: Es ist dem deutschen „Volk“ nicht gelungen, zur modernen Nation zu werden, weil es zu keiner angemessenen Universalisierung des Volksbegriffs kam. Nachdem der nationalsozialistische Versuch, dies eben zu tun, scheiterte, fiel man auf den Status eines Volksbegriffs vor 1848 zurück und verweigert zur Zeit hartnäckig, die Grenze vom Volk zur Nation noch einmal zu überschreiten. Dieses Schema ist durch drei semantische Stadien des Nationenbegriffs zu exemplifizieren, die auch die derzeitige Situation beleuchten.

Erstens: Der poetische Volksbegriff

Der Begriff Nation impliziert eine Universalisierung der ethnisch- räumlichen Identität durch politisch-staatsrechtliche Begriffe. Beispielhaft hierfür ist die Terminologie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung oder das Selbstverständnis der Französischen Republik, aber auch die ungeschriebene Verfassung, die politisch-gesellschaftliche Tradition Großbritanniens.

Als nach der Auflösung der Verfassung des sogenannten „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“, also nach Auflösung eines wie auch immer anachronistischen, aber doch universalistischen Konzepts der neue deutsche Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts daran ging, sich selbst zu definieren, da stand solche Universalisierung nicht mehr zur Verfügung, sondern zunächst nur der Volksbegriff zu Gebote. Jenseits der staatsrechtlichen Grundlagen des definierten Staatsgebiets haben führende politisierende Intellektuelle nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 die nationale Identität mit Hilfe eines romantischen Volksbegriffes formuliert. Ohne einen universalistisch-politischen Anspruch bedeutete dies eine Verengung der Vorstellung von Deutschland auf eine ethnische und sprachliche Gleichheit.

Es wäre falsch, diesen Volksbegriff der romantischen Philologie unmittelbar schon mit der völkischen Perversion zu belasten. Es handelte sich hier um vornehmlich poetisch-archaische Quellenfunde, die jeder nationalistischen Aggression entbehrten. Diesen sozusagen poetischen Volksbegriff hat Heinrich Heine aus seinem Pariser Exil heraus 1836 in seiner berühmten Kritik der deutschen Romantik wie folgt unverfänglich auf den Begriff gebracht: „In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volks. Hier offenbart sich all seine düstere Heiterkeit, all seine närrische Vernunft. Hier trommelt der deutsche Zorn, hier pfeift der deutsche Spott, hier küßt die deutsche Liebe.“

Heinrich Heine sprach nicht vom Ernst, sondern auch vom Spott als Potential des deutschen Volkes. Die Abwesenheit dieser Qualität sollte bei der Entwicklung des semantischen Potentials als Nation ein entscheidendes Kriterium werden. Charakteristischerweise stand und steht auf der Stirnfront des deutschen Reichstages nicht: „Der deutschen Nation“, sondern „Dem deutschen Volke“.

Zu fern stand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der deutschen Durchschnittsmentalität noch immer die universalistische Transformation vom Volk zur Nation, als daß man an den Nationenbegriff der mittelalterlichen Reichsverfassung hätte anknüpfen wollen. Zur romantischen Volksidee mochte auch inzwischen die frühe sozialdemokratische Version des Volks getreten sein. Beide Auffassungen aber verdeckten eine Leerstelle, die nach 1914 mit einer Universalisierung ausgefüllt werden würde, die im neunzehnten Jahrhundert noch keiner ahnte.

Zweitens: Die beiden gescheiterten Universalisierungsversuche des Volksbegriffs zur Nation

A) Der philosophisch-idealistische Versuch

Es ist offensichtlich, daß Heines poetische Formel vom deutschen Volk nicht nur untauglich war für den politischen Nationalismus, sondern für eine Staatstheorie überhaupt. Nun hat es aber schon zu Beginn des Jahrhunderts einen Universalisierungsversuch gegeben, der in seiner spezifischen Verfehlung der politischen Kategorie und deren Ersetzung durch philosophisch-ethische Begriffe beispielhaft zeigt, warum und wie die notwendige Transformation vom Volks- zum Nationenbegriff historisch und systematisch von Beginn an in Deutschland scheiterte.

Dieser verfehlte Universalisierungsversuch waren die 1808 erschienenen „Reden an die deutsche Nation“ von Fichte, dem neben Hegel bedeutendsten Repräsentanten des erkenntniskritischen Idealismus. Es handelt sich aber nicht um ein chauvinistisches Pamphlet vom Schlage des Wortführers der nationalistischen Studentenschaft Ernst Moritz Arndt, sondern um das durchdachte Projekt des Autors der „Wissenschaftslehre“, die mit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ zu den Grundurkunden der westeuropäischen Moderne gehört.

Die von Fichte vorgenommene Transformation des Volksbegriffs zur Kategorie Nation geschieht vermittels einer einfachen semantischen Operation, die ich hier verkürzt wiedergebe: Indem die Deutschen – so Fichte frei nach Tacitus– dank sprachlicher Unvermischtheit und räumlichem Mittelpunkt das „Urvolk“ schlechthin sind, hat sich in ihnen auch das „Ursprüngliche“ einer neuen Philosophie gezeigt, die einen universalen Herrschaftsanspruch antritt: „Diese deutsche Philosophie erhebt sich wirklich und durch die Tat ihres Denkens, keineswegs prahlt sie es bloß, zufolge einer dunklen Ahnung, daß es so sein müsse, ohne es jedoch bewerkstelligen zu können,– sie erhebt sich zu dem unwandelbaren ,Mehr denn alle Unendlichkeit‘, und findet allein in diesem das wahrhafte Sein.“ Fichte begründet den welthistorischen Anspruch des deutschen Volkes, also seinen Anspruch, vom ethnischen Ensemble des Volkes zum Ideen setzenden Stadium der Nation fortzuschreiten, nicht mit einem ethnisch-rassistischen, sondern einem linguistischen Argument: Nur die deutsche Sprache habe die besondere Fähigkeit entwickelt, übersinnliche Phänomene zu bezeichnen, das heißt die „Idee“ anzuschauen. Das Argument von Fichtes „Reden“ war keine Erfindung ex nihilo.

Indes bedeuteten Fichtes „Reden“ einen qualitativen Umschlag mit Folgen: Indem er die mehr oder weniger metaphorischen Ideen und die poetische Symbolik seiner Vorgänger in einen begründeten Zusammenhang von Geschichte und historischer Signatur der Zeit brachte, was als erzieherisches Projekt gedacht war, indem er es mit der Logik und sprachlichen Härte des Systematikers ausstattete, bekam es die Schärfe einer politischen Formel. Obwohl Fichte kein preußischer Patriot war, er unter den deutschen Philosophen der einzige Parteigänger des Vernunftprinzips der Französischen Revolution blieb, hat er der aggressiven Verengung des Nationenbegriffs Vorschub geleistet, die auch Hegels Definition der deutschen Nation charakteristiert: Es ist die „unvermischte“ Nation. Unvermischtheit sozusagen als Bürgschaft der geistigen Originalität.

Die folgenreichste Veränderung gegenüber den genannten harmloseren Universalisierungsversuchen des deutschen Volkes aber ist etwas, das sich dem Beobachter am leichtesten entzieht: Es ist Fichtes Sprachstil eines erbarmungslosen Ernstes. Man kann das als ein semantisch-mentalitätsgeschichtliches Gesetz fassen: Fichtes Stil der „Reden an die deutsche Nation“ entbehrt all jener Elemente des Spotts, des Zorns und der Heiterkeit, die Heine dem deutschen Volk zuschrieb. Sie sind eliminiert zugunsten einer einzigen Eigenschaft: Ernst. Dieser Ernst verdankt sich nicht bloß dem Thema. Es ist ein buchstäblicher Ernst, dessen Mangel an Farbe, an Lebendigkeit einen neuen Stil in der deutschen intellektuellen Publizistik begründete, der fortan überhandnahm: der Stil der vermiedenen Ironie.

Friedrich Schlegel hatte in seiner Antwort an die Kritiker seiner ironischen Fragmente 1800 prophezeit, daß das 19. Jahrhundert einmal seine sublime Ironie verstehen werde. Diese Prophezeiung sollte sich als falsch herausstellen.

Das geistesgeschichtliche Datum dieses Vergessens der Ironie zugunsten des Ernstes sind Fichtes „Reden an die deutsche Nation“. Wie schwerwiegend dieser Ironieverlust für das deutsche Bewußtsein, gerade auch bei der Intelligenz, seitdem war, das erweist sich an dem Stellenwert, den Richard Rorty der Ironie für eine liberale nachmetaphysische Gesellschaft zuerkennt. Es wäre ein Erkenntnisgewinn, die Schübe des Ironieverlusts in Deutschland genauer zu verfolgen: Es stellt sich dann vielleicht heraus, daß — anders als im europäischen Westen und Osten (wo die Französische Revolution von 1789 ebenfalls einen Ironie- Stopp einführte, der dann aber wieder durchbrochen wurde von der Tradition des Witzes) — in Deutschland von 1814/15 bis 1914/15 und 1933 die Ironie-Tradition (die vor 1800 lebendig war) durch existentielle Einbrüche minimalisiert wurde.

B) Der faschistische Versuch

Wenn eines die nationalsozialistische Epoche Deutschlands charakterisiert, dann die Tatsache, daß sie den Ernst des Fichteschen Nationenbegriffs totalisiert hat. Fichtes Nation war nicht die Hitlers. Die Nationalsozialisten betrieben bekanntlich eher mit dem Volksbegriff ihre frühe Propaganda. Hitler sprach mit rhetorischem Fanatismus vom deutschen Volk. Aber diese völkische Metaphorik herrschte nur dort und insofern vor, als die nationalsozialistische Nation noch Utopie blieb. Es ist daran zu erinnern, daß Hitlers Modell der nationalsozialistischen Zukunft nicht die rassistische Schwärmerei seiner völkischen Ideologen, sondern das Vorbild des am römischen Paradigma orientierten faschistischen italienischen Staates war. Will sagen: Die nationalsozialistische Machtergreifung [wir setzen dieselbe gemeinhin in Anführungszeichen..., die Säzzerin] vollzog sich unter einem erkennbaren Universalisierungsversuch des traditionellen Volksbegriffs der wilhelminischen und Weimarer Epoche zugunsten einer Nationenidee, deren entscheidendstes Kriterium nunmehr ein politisches war: die Zugehörigkeit und Geprägtheit des Volksmitglieds durch die nationalsozialistische Ideologie. Insofern hat diese Universalisierung jene erste, aus dem Geiste des deutschen Idealismus geborene sogar überboten. Erstmals – so sollte es scheinen – besann sich der deutsche Nationenbegriff auf ein politisches Prinzip. Die Kategorien wie Heimat, Volk, Region, die charakteristischen Identifikationen der Deutschen im 19. und frühen 20.Jahrhundert wurden zurückgestuft zugunsten eines aggressiven Begriffs der Nation.

Fichtes Nationen- und Volksbegriff spielte dabei keine unmittelbare Rolle mehr, obwohl es festzuhalten gilt, daß sein publizistisches Werk, namentlich die „Reden“, die nach dem Zweiten Weltkrieg kaum Gegenstand der deutschen Philosophie bzw. Literaturwissenschaft waren, sondern buchstäblich von den Wiederentdeckern des Ranges seiner Philosophie verdrängt wurden, daß diese „Reden“ vornehmlich in den dreißiger und vierziger Jahren affirmativ kommentiert worden sind. Es ist auch zu sehen, daß sich in Heideggers Sprachphilosophie, wie er sie vor allem in seiner Deutung der späten Hymnik Hölderlins in den vierziger Jahren, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, formulierte, die Fichtesche Begrifflichkeit vom Urvolk und seiner Sprache wiederfindet. Vor allem aber trat jener Ernst, der Fichtes Stil charakterisiert, flankiert vom Stil wenn nicht Hegels selbst, so doch der Hegel-Schüler, trat also diese akkumulierte Masse von Ernsthaftigkeit im Medium der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Sprache an und definierte die Nation. (Mentalitätsgeschichtlich war der Ernst, mit dem die „Halle'schen Jahrbücher“ und namentlich ihr Herausgeber Arnold Ruge der Ironie Heinrich Heines den Prozeß machten, von größter Bedeutung. Auch Hegels Kritik an Schlegels Ironiebegriff sollte nicht immer nur begriffsgeschichtlich, sondern auch in diesem psychohistorischen Licht gesehen werden.) Dieses linguistische Phänomen scheint wichtiger als das ideologische: denn obwohl der nationalsozialistische Versuch einer Universalisierung des Volksbegriffs intellektuell, politisch und moralisch scheiterte, darf man fragen, ob denn damit auch der furchtbare Ernst, der Ironieverlust, vergessen werden darf.

Drittens: Die gegenwärtige semantische Phase

Dieselbe läßt sich als Summe aus den beiden gescheiterten Universalisierungen des Nationenbegriffs – der idealistisch-philosophischen und der faschistischen – fassen. Die Bundesrepublik vor 1989 existierte unter dem ausdrücklichen Ausschluß des Nationenbegriffs. Das wurde schon dadurch notwendig, daß zum einen das innenpolitischen Defizit einer gespalteten Nation, zum anderen das außenpolitische Defizit sehr reduzierter Hoheitsrechte verhinderte, daß die deutsche Nation ein selbstverständlicher Begriff werden konnte. Das vorherrschende subjektive Selbstverständnis der Deutschen als Verlierer, Flüchtlinge, Enterbte und Kriminalisierte läßt viel eher wieder die semantische Bedeutung des alten, vormodernen Begriffs von einem naiven, weltfernen, regional sich verstehenden Volk aktuell werden. Aber dies ist eben nur eine passive Begründung. Die aktive Begründung, die etwa seit 1968, dem nach 1945 und vor 1989 wichtigsten Einschnitt der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, möglich wurde, ist entscheidend: denn nunmehr ist der Verzicht auf nationalstaatliche Identität und einen universalistischen Nationenbegriff in dem Sinne, wie ihn Staaten wie England, Frankreich, aber auch die Niederlande oder Polen besitzen, bewußt und ausdrücklich als negative Reflexion des gescheiterten nationalistischen Universalisierungsversuchs vollzogen.

Der erste Versuch Fichtes war zwar vergessen, aber auch dessen Scheitern spielte nach 1968 insofern noch eine Rolle, als über die Nazizeit hinaus sich überhaupt kein Nationenmodell mehr anbot, auf das man hätte rekurrieren dürfen. Die Negativität des Nationenbegriffs in Deutschland spitzt sich in der Tatsache zu, daß die Deutschen sich als Nation nur in zwei Weltkriegen wirklich kollektiv erfahren haben. Krieg und Nation wurden zwei notwendig zueinandergehörende Begriffe wie in keinem anderen europäischen Volk.

Meine These zur jetzigen Situation lautet deshalb: Eines universellen Konzepts zur Nation so endgültig entledigt, entschied sich die westdeutsche Generation nach 1968 – und inzwischen gilt dies keineswegs mehr bloß für die linke Opposition und deren Erben – bewußt für eine Volksidentität des regionalistischen Typus des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts; die föderative Struktur der Bundesrepublik ist ohnehin der objektiv staatsrechtliche Reflex auf die jahrhundertealte Autonomie der deutschen Provinzen. Das westdeutsche Bewußtsein nach 1968 hat sich ihr in dem Maße anbequemen können, wie die letzten Reste eines traditionellen Nationenbegriffs, sei es in der Einheitsdiskussion der frühen siebziger Jahre, sei es im Typus eines norddeutsch-preußischen Sozialdemokraten à la Brandt oder Schmidt, seit 1980 verschwunden sind. Man könnte dieses durchaus regressiv zu nennende Zurückgehen auf das regionale Modell eines Volksbegriffs des frühen 19. Jahrhunderts an vielerlei Symptomen der westdeutschen öffentlichen Kultur charakterisieren. Ihr alle Einzelheiten verbindendes Stigma ist ihre Provinzialität. Dies hat nicht allein zu tun mit der Tatsache, daß es keine Metropole, keine Zentrifugalkraft gibt, die beiläufig und selbstverständlich Rangordnungen im Wert- und Qualitätsgefühl liefert. Es hat mehr damit zu tun, daß die deutsche Provinz gewissermaßen inkonsequent Metropole sein will, sozusagen eine harmlose Metropole, und eben dadurch, durch ihren überflutenden Hedonismus und Reichtum, die Begriffe verwechselt.

Wichtiger für den Begriffszusammenhang Nation ist die sprachliche Verfassung dieses provinziellen Milieus. Es ist betont kommunikativ, aber evasiv, liebenswürdig, aber ängstlich, programmatisch- ideologisch, aber undeutlich unkonkret. Es fehlt, mit anderen Worten, an klarer Sprache und selbstverständlicher Gestik. Das gilt vornehmlich für die Funktionselite der jüngeren Politikerkaste und der Intelligenz. Es scheint inzwischen so, daß die unübersehbare historische Repräsentanz, die der anfänglich als provinziell belächelte jetzige Bundeskanzler bekommen hat, gerade in dem völligen Mangel einer Ästhetik des Staates liegt, an deren Stelle dieser eine für viele noch immer verletzende Vulgarität des privatistischen Stils setzte und somit die Bundesrepublik als das Land ohne Staat und Nation, wenn nicht auf den Begriff, so doch ins Bild brachte. Der deutsch-jüdische Soziologe Norbert Elias stellte nach einem Besuch der Bundesrepublik Ende der siebziger Jahre fest, „daß es vorläufig in Westdeutschland nur das Gehäuse einer Staatsorganisation gibt: damit ist noch längst nicht gesagt, daß sich die Bevölkerung dieses Staates als eine Nation fühlt“. Und er sagte dies warnend, weil nur auf dem Boden einer Identität als Nation auch zivilisatorische Qualität möglich sei.

Es geht hier nicht um eine Kritik an einer offenbar unausweichlichen Entwicklung, sondern um die Benennung ihrer Ursache. Die Ursache – das ist nunmehr deutlicher geworden – liegt nicht, wie man immer wiederholt, nur an einer einfachen Herkunft aus dem deutschen Faschismus. Man muß es genauer sagen: Sie liegt darin, daß jenes Universalisierungsprojekt, ohne das ein Staat nicht auskommt, zweimal gescheitert ist – und daß die jetzige Generation daraus die Konsequenz zieht, ganz ohne Universalisierung auskommen zu können, und statt dessen das Modell vom glücklichen Volk in der Provinz favorisiert.

Warum aber funktioniert das nicht mehr? Erstens: Der Weg in die Provinz und in die Harmlosigkeit einer neuen Unschuld ist gerade im Sinne einer kritischen Erinnerung der Vergangenheit als Teil unserer nationalen Identität inkonsequent, mehr noch: gedanklich unhaltbar. Denn die Diskussion dieser nationalen Vergangenheit ist nur möglich unter der Nationenkategorie. Das belegt sich schon dadurch, daß der Typus des Provinziellen die nationalsozialistische Schuldfrage ausschließlich privatistisch-moralisch diskutiert. Die Deutschen von damals haben mit dem Schwaben oder Rheinländer von heute so wenig zu tun wie die deutschen Soldaten in amerikanischen Kriegsfilmen der fünfziger Jahre.

Das Abtauchen in die regionale Identität ist durchweg verbunden mit einer prinzipiellen Distanzierung von Vergangenheit als nicht zu ihm und seiner Privatheit gehörend. Der provinzielle private Deutsche hat überhaupt kein historisches Bewußtsein und lebt damit absehbar in einem historischen Niemandsland.

Zweitens: Es gibt zur Zeit zwei deutsche ungelöste politische Probleme, die so lange andauern werden, solange nicht erneut eine Universalisierung versucht und gelungen ist. Das innenpolitische Problem: die Kosten der deutschen Wiedervereinigung. Deutschland- West will sie nicht zahlen, weil es auf der Ebene eines andauernden regionalen Selbstverständnisses gar keinen Grund gibt, dies zu tun. Die Zumutung zu zahlen hat nur dort Logik, wo über dem Begriff der Nation so etwas anwesend wird wie Patriotismus.

Das außenpolitische Problem: Deutschlands Politik überschlägt sich in immer neuen Windungen, die deutsche Armee, deutsche Soldaten in keine Kampfsituation geraten zu lassen. Das Verfassungsargument ist nur ein vordergründiges. Wesentlich ist, daß nur dort Soldaten akzeptiert werden, wo über dem Nationenbegriff so etwas anwesend ist wie eine internationale Verantwortlichkeit.

Man sieht, mangels Universalisierung sind die Westdeutschen weder patriotisch noch international verantwortlich. Sie haben sich vierzig Jahre lang als Bewohner von Provinzen unterhalb von Nation und Staat verstanden. Die Gründe dafür lagen in zwei notwendigerweise falschen und gescheiterten Universalisierungen des Volksbegriffs. Daraus ergibt sich ein zwingender Schluß: Die Appelle liberaler, sozialdemokratischer und konservativer Politiker und Publizisten an einen potentiellen deutschen Patriotismus sind notwendigerweise hohl. Es kann ihn nicht geben, solange nicht ein erneuter Universalisierungsversuch möglich ist. Das ist aber keine Frage guten Zuredens, sondern die Frage des Verständnisses für diese Begriffslogik. Aus ihr ergibt sich: Ohne eine kategoriale Korrektur des provinziellen Selbstverständnisses wird weder das innenpolitische noch das außenpolitische Problem wirklich lösbar sein. Ich bezweifle, daß die Gründe, die eine solche Universalisierung verunmöglichen, in absehbarer Zeit verschwinden werden. Man wird mit Deutschland für lange Zeit noch nicht als Nation, sondern nur mit einem Volk unterhalb solcher Kategorien rechnen müssen.

Eine letzte spekulative Unterscheidung in bezug auf unsere Ausgangsbegriffe: Der Ernst, der mit Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ den alten Ironie-Diskurs ersetzte, der mit dem Ernst von Hitlers Reden endgültig als deutsche Norm installiert wurde, ist seit 1968 zumindest konterkariert worden mit einer neuen ironischen Rede. Sie wurde nicht überall gesprochen, sondern der Ernst- Diskurs hat sich gerade bei einflußreichen Vertretern der westdeutschen Linken in traditioneller Erbarmungslosigkeit fortgesetzt. Dennoch: 1968 entdeckte auch die Ironie wieder. Diese ironische Rede ist seit der Vereinigung beider deutscher Staaten von einem neuen Ernst der ehemaligen DDR bedroht. Denn in dieser trafen zwei Versionen des beschriebenen Ironieverlusts kompakt zusammen. Einmal das Ironie-Verbot des nationalsozialistischen Erbes, zum andern, der notorische Ernst hegelscher Ironie-Kritik der DDR-Alltagssprache gehörten zum Problemfeld einer weit entwickelten Sklavensprache. Der „Ernst“ der DDR bleibt also bedrohlich. Und zwar deshalb, weil das absehbar Notwendige, eine dritte Universalisierung des Volksbegriffs, nur denkbar ist auf Kosten der wichtigsten westdeutschen zivilisatorischen Errungenschaft: ihrer Ironie. Ein beliebiger Blick auf den Tonfall ostdeutscher Intellektueller zeigt, wie hier, sieht man von Erscheinungen wie Heiner Müller einmal ab, abermals der teutonische Ernst als Diskurs zurückgebracht werden könnte.

So ergibt sich folgendes Dilemma: Eine Lösung der politischen Lähmung Deutschlands ist nur möglich durch Universalisierung seines bisherigen Begriffs von regionaler Existenz. Diese Universalisierung aber setzte voraus, da sie die Ostdeutschen einzubeziehen hat, daß eben jenes Element der beiden ersten Universalisierungsversuche wieder aktiviert würde, dessen Überwindung die vielleicht schönste Frucht der westdeutschen Achtundsechziger-Bewegung war. Wer dieses Apriori theoretisch und praktisch auflöst, der wird in Deutschland ein neues argumentatives Feld besetzen.

Der Autor ist Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld.