Gibt es ein Leben ohne Krieg?

Zwei Bücher vertreten die Meinung, Krieg sei viel mehr als reiner Interessenkonflikt  ■ Von Achim Schmillen

Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Was aber ist Krieg? Ist er eine überwindbare Institution, ein Instrument zur Verfolgung und Durchsetzung von Interessen? Oder ist er ein kulturelles Phänomen?

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und dem Ende des Kalten Krieges finden wir ein völlig gewandeltes Arrangement von Gewalt und Ordnung in Europa vor, in dem der Krieg eine außerordentlich bedeutsame Rolle spielen wird. Vor diesem Hintergrund sind unvoreingenommene Neuannäherungen an das Phänomen Krieg eine Herausforderung. Karl Otto Hondrich hat bereits im Januar 1992 einen Essay über den „Lehrmeister Krieg“ geschrieben, der für die zu Friedfertigkeit sozialisierten Deutschen äußerst provokant ist. Nun weist auch der Frankfurter Psychoanalytiker Stavros Mentzos vor allem auf die psychosozialen Funktionen von Krieg hin. Obwohl sich beide Autoren aus unterschiedlichen Richtungen dem Thema nähern, stimmen sie darin überein, daß kein Krieg allein aus ökonomischen Interessen entsteht. Beide gehen mit je anderem analytischen Zugriff davon aus, daß Krieg als kulturelles, soziales und psychosoziales Phänomen mehr ist als ein zweckrationales Instrument zur Durchsetzung von Interessen. Denn dann wäre Krieg prinzipiell ausschaltbar, wegdefinierbar durch neue Orientierungen.

Wenn aber Krieg ein existentielles Phänomen der Kulturentwicklung ist, bedarf dies radikaler Aufklärung und keiner Tabuisierung. Nur wer die Existentialität des Krieges aufgreift, seine Grundlagen jenseits des instrumentellen Charakters, jenseits unterstellter kapitalistischer Verwertungsinteressen benennt, kommt zu entscheidenden Schlußfolgerungen für seine Einhegung. Angesichts des Krieges im früheren Jugoslawien ist der Essay von Hondrich – ursprünglich auf die Irrungen und Wirrungen nach dem zweiten Golfkrieg verfaßt – von erneuter Brisanz. In die gleiche Richtung argumentiert Stavros Mentzos, der herausarbeitet, daß ein „großer Teil der relevanten Dynamik des Krieges übersehen wird, wenn man nur seine offizielle, bewußte ‘Hauptfunktion‚ (zweckrationales Instrument zur Entscheidung unlösbar erscheinender Interessenskonflikte) berücksichtigt.“ Er geht davon aus, daß die Aufklärung der psychosozialen Funktionen des Krieges „bei der Auflösung seiner Rätselhaftigkeit und vielleicht auch bei der endgültigen Überwindung dieser anachronistischen Institution von Nutzen sein kann“. Für Mentzos ist der Krieg jedenfalls nicht dadurch überwindbar,„daß wir ihn als inhuman, abscheulich und grausam (was er sicher auch alles ist) verdammen, oder dadurch, daß wir ihn einfach verbieten“.

Hondrich war sich unter Umständen nicht bewußt, welch ein Sprengsatz sein Zugriff für die sich selber als Experten definierende Peace Community sein würde. Für diese ist es bereits ein verhängnisvoller Irrtum, Krieg verstehen zu wollen.

Mentzos und Hondrich thematisieren die im Schattenreich linker Tabu-Zonen verdrängten Funktionen des Krieges, nämlich seine psychosoziale und seine identitätsstiftende Bedeutung, seine gestaltende Kraft für die Beförderung von Zusammengehörigkeitsgefühl, gemeinsamen Werten und ethno-kultureller Identität. Daß mit der Beförderung der ethno- kulturellen Identität der Bogen schnell zum existentiellen Charakter des Krieges geschlagen wird, daß kollektive Gewalt kulturelle Weiterentwicklung zur Folge haben könnte, durchlöchert gängige Ächtungs- und Tabuisierungsstrategien.

Die Botschaft der Autoren ist für uns Nachkriegsgeborene, die auf das Clausewitzsche Axiom des instrumentellen Charakters von Krieg und damit seiner prinzipiellen Überwindbarkeit eingeschworen wurden, eine ungeahnte intellektuelle Herausforderung. Neu ist sie dennoch nicht. Max Scheler schrieb 1914 in seinem Werk „Der Genius des Krieges“ über den Sinn des Krieges, daß er ihm „wie der rauhe Gehilfe jener letzten sammelnden, einheitsstiftenden Kräfte, die menschliche Gemeinschaft immer extensiver und intensiver gestalten“ erscheint. Und auch Clausewitz selbst, gern (und oft falsch) zitierter Vertreter des instrumentellen Charakters von Krieg als „fortsetzende Staatspolitik mit anderen Mitteln“ hatte eine existentielle Kriegsauffassung, wonach Krieg auch ein Medium der Konstitution sein kann.

Wer dem Krieg einen existentiellen Charakter zugesteht, wird wie Hondrich letztlich zu einer provokanten Schlußfolgerung kommen müssen: „Bereitschaft zum Krieg als Bedingung des Friedens: Dies ist die wohl unangenehmste Einsicht für eine Kultur der Friedfertigkeit“. Achim Schmillen

Stavros Mentzos: Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen, Frankfurt 1993, 19,80 DM;

Karl Otto Hondrich: Lehrmeister Krieg, Reinbek bei Hamburg 1992, 14,00 DM

Der Autor ist wiss. Mitarbeiter im Büro Wollenberger, MdB Bündnis 90/Die Grünen und Koordinator AK II – Außen- und Sicherheitspolitik