„Es war die reine Hölle“

Schwerverletzte berichten aus dem gefallenen Čerska und dem eingeschlossenen Srebrenica/ Sieben konnten Anfang März nach Tuzla ausgeflogen werden  ■ Aus Tuzla Erich Rathfelder

Die Front ist näher an das ostbosnische Tuzla herangerückt. Am Mittwoch abend schlugen zwölf großkalibrige Granaten ein. Schon ist der verbleibende Zufahrtsweg zur Küste hin an mehreren Stellen gefährdet. Und auch die Zuversicht der Bevölkerung der Stadt ist seit der serbischen Offensive gegen die ostbosnischen Enklaven, seit dem Fall von Čerska und Konjević Polje, gesunken. Ungerecht wird von vielen hier das Bosnien auferlegte Waffenembargo empfunden. Denn: „Wenn wir uns schon nicht verteidigen dürfen, dann müßte man uns in Schutz nehmen.“ Zwar versuchen die UNO und andere Hilfsorganisationen verzweifelt, Hilfslieferungen für die bedrohten Hungergebiete in Ostbosnien auszuhandeln. Vergeblich – die Absprachen werden nicht eingehalten. „Die Akzeptanz der Hilfsorganisationen ist ziemlich niedrig geworden“, erklärte der Repräsentant des Internationeln Roten Kreuzes vor Ort, der Schweizer Andreas Schies. Der bosnische Serbenführer Karadžić kann es sich erlauben, offen die Durchfahrt für die Hilfskonvois in die Hungergebiete abzulehnen.

Kaum einer kommt durch

Langsam sickern Nachrichten über die Lage der Menschen in den eingeschlossenen Gebieten durch. Ein Offizier der bosnischen Armee erklärte am Mittwoch in Tuzla, zwar hätten sich nur einige Flüchtlinge bis ins „befreite Gebiet“ durchschlagen können, doch viele hielten sich noch in den Wäldern versteckt. 150 Männern sei es gelungen, bis nach Medjedja, einem kleinen Dorf an der Demarkationslinie im Süden Tuzlas zu gelangen. „Hunderte von Frauen und Kindern sind in zwei Dörfern nahe dieser Ortschaft von Tschetniks eingeschlossen. Bis nach Tuzla hat es noch niemand geschafft. Hier gibt es bisher nur die Schwerverletzten, die unsere Hubschrauber Anfang März rausgeholt haben.“

Diese Augenzeugen aus Čerska und Srebrenica liegen im Städtischen Krankenhaus. Auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt erstreckt sich der weitläufige, moderne Krankenhauskomplex. Schon im Garten sieht man sie, die Opfer, die der Krieg gezeichnet hat. Die ein Bein verloren haben, versuchen noch etwas ungeschickt, mit ihren Krücken zu hantieren. Und am Eingang lungern die Jugendlichen, denen die äußeren Wunden nicht mehr anzumerken sind. „Bauchschüsse und Verletzungen durch die Schrapnells“, bedeutet Dr. Nedim Karić, der hier in der Abteilung Dienst tut. Er zeigt auf das Fenster seines Büros, durch das eine Kugel schlug. „Scharfschützen“, sagt er lapidar.

Dr. Karić ist auch verantwortlich für die sieben PatientInnen, die aus Srebrenica auf abenteuerliche Weise entkommen sind. Denn nur einer von zwei Hubschraubern, die die Schwerverletzten am 4. März aus Srebenica abholen sollten, kam heil durch. Der andere wurde abgeschossen. Über das Schicksal dieser Insassen ist seither nichts bekannt geworden. „Die Fälle, die ich Ihnen zeigen werde, sind Schwerstverletzte in einem sehr kritischen Zustand. In Srebrenica gab es vor der serbischen Offensive siebenhundert solcher Fälle, seither natürlich weit mehr.“ Und er berichtet davon, wie dort ohne Medikamente operiert werden mußte. „Vielleicht haben ja die amerikanischen Fallschirmabwürfe auch einige Medikamente enthalten, vielleicht kann der Kollege, der noch dort ist, jetzt wenigstens ein Schmerzmittel anwenden, wenn er amputieren muß.“

Es geht einen langen Gang entlang, der schließlich in einen verdunkelten Raum mündet. Er deutet auf den zehnjährigen Jungen, der künstlich beatmet wird. Der kleine, völlig abgemagerte Körper ist bedeckt von Schorf. „Hautkrankheiten, wie sie nun die Leute von Srebrenica fast alle haben, eine Folge der Unterernährung, des Hungers.“ Der Junge hatte Blinddarmentzündung. Wäre er einige Tage früher behandelt worden, wäre er wohl bald wohlauf. In einem zweiten Raum liegt eine junge Frau, deren Kopf von einem Schrapnell getroffen wurde. Eine äußerst komplizierte Operation konnte bisher ihr Leben retten, sie ist jedoch noch nicht bei Bewußtsein, „es sieht schlecht aus“. Die Frau, die gerade Mutter geworden war, hat auch ihr Kind verloren. „Das zwei Wochen alte Baby wurde von der Granate zerfetzt.“ Wie bei dem Jungen ist die Haut der Frau mit Schorf bedeckt, ihr abgemagerter Körper gleicht den Schreckensbildern aus den deutschen KZs des Zweiten Weltkriegs. „Wir hatten einfach nichts mehr zu essen“, sagt Mensur Muhić, ein 33jähriger ehemaliger Lehrer, dessen komplizierte Verletzung nach einem Bauchschuß nun langsam wieder zu heilen beginnt. Nur einmal sei ein Konvoi mit humanitärer Hilfe durchgekommen, „das einzige Essen für 60.000 Leute“. Später, als er verletzt vor sich hindämmerte, habe er noch von den Fallschirmabwürfen gehört, jedoch nichts davon abbekommen. Er habe vorher in Čersak gekämpft. Als er verwundet wurde, habe man ihn nach Srebrenica gebracht. Tagelang habe er dort im Unterstand gelegen, bei eisiger Kälte, und „dann die Schmerzen“. Fast ständig seien sie beschossen worden. Um die 60.000 Menschen sind jetzt dort zusammengepfercht, „es ist die Hölle“.

„Nur einmal, im Januar“, erinnert er sich, „hatten wir uns befreit und waren bis an die Drina vorgestoßen. Aber dann sind die Tschetniks aus Serbien gekommen mit allen ihren Waffen. Gegen diese Übermacht war der Kampf nicht zu gewinnen, sie griffen mit Panzern und Artillerie an. Wir hatten nur die Munition, die wir den Serben abgenommen haben. Es war ein Gemetzel.“ Viele Verwundete habe es gegeben, allein in seinem Unterstand mehr als 150.

Keiner wird überleben

Auch Husa Čulević ist schwer verwundet. Nachdem er am letzten Februartag getroffen wurde, mußte sein Bein amputiert werden, ohne Betäubungsmittel wurde es ihm abgesägt. Die Stimme des 25jährigen Mechanikers vibriert, er wird von einem Hustenanfall geschüttelt. Doch er will erzählen, was passiert ist. „Ich war auch in Čerska. Das Städtchen hatte um die 6.000 Einwohner. Von Kriegsbeginn im April an wurden wir beschossen. Ende Februar, als ich noch dort war, waren es 1.500 bis 2.000 Granaten pro Tag. Auch aus der Luft wurden wir angegriffen. Während der Monate der Belagerung starben Leute, das war nicht zu verhindern, die hatte es eben erwischt. Wir verkrochen uns in den Kellern, bauten Unterstände. Als es nichts mehr zu essen gab, bereiteten wir Blätter zu irgendeinem Fraß zu.“ Als sie Čerska nicht mehr halten konnten, floh auch er die etwas mehr als 20 km nach Konjević Polje. Wer nicht laufen konnte, wurde jedoch dortgelassen. „Die geblieben sind, haben das wahrscheinlich nicht überlebt.“ Verbittert ist er über die Äußerung des UNO-Generals Morillon, der nach dem Fall von Čerska behauptet hatte, es habe dort keine Verbrechen gegeben. „Nach meiner Verwundung konnte ich noch die 40 Kilometer nach Srebrenica transportiert werden, wir konnten uns noch in der Enklave bewegen. Doch Srebrenica ist völlig eingeschlossen. Morillon macht dort wieder etwas gut“, sagt er und fährt dann bitter fort: „Niemand wird da überleben, so ist es, alle werden sterben.“

Sind wir Aussätzige?

„Diese Leute konnten hierherkommen, weil die bosnische Armee sie mit Hubschraubern herausholte“. Dr. Kadim Muminhozić ist nicht nur Arzt, er ist auch Vorsitzender der muslimanischen Partei SDA in der Stadt. Er ist ein rationaler und ruhiger Mann, doch bei diesem Thema kann er die Emotionen nicht verbergen. „Der Flughafen von Tuzla ist jetzt in der Hand der UNO, weitere Hubschrauberflüge der Bosnier sind verboten, weil nicht nur Verwundete heraus, sondern auch Waffen reingeschafft worden sind. Ist es denn falsch, daß die Leute in Srebrenica in die Lage versetzt werden, sich zu verteidigen?“ Immer wieder tauchen diese Fragen bei den Gesprächen in Tuzla auf: Warum werden gerade wir so von der internationalen Gemeinschaft behandelt? Sind wir denn Aussätzige? Es fällt doch niemandem ein, den Serben den Besitz von Waffen zu verweigern, uns gegenüber aber wollen dies alle. In der Angst vor der Ausweitung des Krieges für den Fall, daß auch die Muslimanen über Waffen verfügten, stecke eine Art Rassismus. Denn Serben und Kroaten dürften die Moslems umbringen, schlügen diese aber zurück, sei dies unerträglich. „Wir wollen endlich Selbstbestimmung.“ Dr. Muminhozić wendet sich wieder seiner Arbeit zu. „Wenn die Verletzten aus Srebrenica eingeflogen würden, könnten sie hier im Krankenhaus aufgenommen werden. Wir sind darauf vorbereitet.“

Ohnmacht des Roten Kreuzes

Daß nicht einmal das Rote Kreuz den Schwerstverletzten helfen kann, ist für Andreas Schieß ein unerträglicher Zustand. „Alle Konventionen des Internationalen Rechts werden in diesem Krieg mißachtet.“ Als er vor zwei Wochen das inzwischen von Serben eroberte Konjević Polje besuchen konnte, gab es in neun Häusern 66 Schwerverletzte, die nicht sachgerecht behandelt werden konnten.“ Er fordert deshalb absolute Bewegungsfreiheit für das Rote Kreuz. „Jeder Tag, der vergeht, ist für die meisten ein Tag zuviel. Wir wollen nicht der ethnischen Säuberung Vorschub leisten, aber die Schwerverletzten müssen sofort in Krankenhäuser kommen und behandelt werden.“ Vom serbischen Vorschlag, die Schwerverletzten gegen die serbische Bevölkerung in Tuzla einzutauschen, hält er nichts. „Das wäre doch Menschenhandel“. Zudem, fügt ein UNHCR-Vertreter hinzu, wollten die meisten Serben gar nicht aus Tuzla weg. Nur 250 von 20.000 hätten dies bei eigenen Erhebungen zu erkennen gegeben.

Noch hat die Stadt ihren multikulturellen Charakter bewahrt. Noch verteidigt der Stadtrat trotz des Krieges dieses Konzept. Hier haben noch diejenigen Parteien das Sagen, die entlang politischer und nicht ethnischer Linien gewählt worden sind. Doch je näher die Schrecken des Krieges rücken, desto zerbrechlicher wird dieser zivile Zusammenschluß. Im Umland Tuzlas hat schon die national definierte Muslimanische Volkspartei das Zepter übernommen. „Wenn wir zum äußersten getrieben werden, scheuen wir uns nicht, auch das äußerste Mittel anzuwenden, und das ist die Öffnung der Tanks mit dem Chlorin, das alles Leben in einem Umkreis von 100 Kilometern auszulöschen vermag“, erklärt ein bosnischer Offizier