„Wie kommen wir zu Mehrheiten?“

■ Hilflosigkeit und stundenlange Debatten bei der Gründung eines Berliner Landesverbandes der Komitees für Gerechtigkeit

Mitte. Draußen tobte der Frühling, drinnen der Kampf um die Tagesordnung. Nach stundenlangem Ringen in einem spitzengardinenverhangenen Saal in Mitte, zwischen Neonlicht, Resopalschränken und olivgrünen Sitzreihen, wurde gestern der Landesverband der Komitees für Gerechtigkeit gegründet. Damit ist Berlin eine Woche nach Mecklenburg-Vorpommern das zweite Bundesland mit einem rund 1.200 Mitglieder umfassenden Dachverband der Gerechten. Dem historischen Beisammensein wohnten etwa 80 VertreterInnen aus zwölf der insgesamt 15 Bezirkskomitees bei, wobei das Komitee Spandau die ganze Last der Repräsentation des Westens tragen mußte.

„Meine Damen und Herren“, begrüßte Michael Nürnberger vom „Provisorischen Landesrat“ die Anwesenden, „wir wollen nicht nur mitregieren, wir werden es auch.“ So ganz scheint die bisherige Strategie jedoch noch nicht aufgegangen zu sein. „Das Erreichte ist unbefriedigend“, gab Herr Nürnberger zu und sehnte sich nach „Mitstreitern im Westteil und einer Lobby der Bürgerrechtler“. Aber: „Wir haben ja auch erst neun Monate Leben gehabt.“

Diese Worte schienen wenig später den Vorsitzenden des Komitees Lichtenberg heftig zu inspirieren: „Es sei mir ein bißchen Rhetorik gestattet – ist noch jemand von der Presse da? Nach neun Monaten sollte ein Kind geboren werden, auch wenn das nicht ohne Schmerzen geht.“ Eigentlich habe er im Namen seiner Basis einen ausführlichen Beitrag halten wollen. Aber die nach lautstarkem Gerangel um die Tagesordnung eingeführte Redezeitbegrenzung – „alles wie früher“, hatte eine Frau in den Saal gemurrt – verunmöglichte ihm dieses gerechte Anliegen. In den Augen der Lichtenberger, merkte er denn in aller Kürze an, sollten sich die Komitees vorrangig um die „Rechtsnachteile im Einigungsvertrag, die Wahrheit über den Solidarpakt, die Frage des Nationalismus in Deutschland und die Reform der Staatsbürokratie“ kümmern.

Doch gerade in der Frage, wo denn diese Schwerpunkte zu setzen seien, wallte eine geradezu anrührende Hilflosigkeit durch den Raum. „Wie kommen wir zu Mehrheiten?“ fragte hier bange ein für das Komitee Weißensee sprechender Doktor. Sein Vorschlag: per Unterschriftensammlungen zugunsten von progressiven Verfassungsreformen. „Unsere Generation“, antwortete eine Doktorin aus Mitte, könne deren Früchte ja gar nicht mehr genießen. Ihre Alternative: „Wer ein großes politisches Feld erobern will, muß sich um die Rentenfrage kümmern.“ Die Wirtschaftslage sei aber so katastrophal, daß man bald mit einer „drastischen Abwertung der Spareinlagen“ rechnen müsse, panikte ein Mann aus Pankow. Sein Ausweg: Man solle jetzt zwei Leuten „die Vollmacht“ zur Verabschiedung der Vereinssatzung und der „programmatischen Thesen“ geben und sich auf Aktionen konzentrieren: „Sonst werden wir hinweggefegt.“

In anderen Bezirken hatte man hingegen die Reize der örtlichen Zusammenarbeit mit anderen Initiativen entdeckt – vom Kleingartenverein bis zum Allgemeinen Deutschen Fahrradclub. Das Komitee Treptow beispielsweise will sich gemeinsam mit anderen auf die Vorbereitung einer antifaschistischen Kundgebung am 8. Mai am dortigen Ehrenmal konzentrieren. Und die Friedrichshainer setzen auf Aktionen „zur Rettung des Palastes der Republik“.

Am Ende einer langen, minutengenau geplanten Tagesordnung blieb die Strategiefrage ungelöst zurück. Da weder Partei noch Bürgerbewegung, weder national noch lokal schlagkräftig, weder frech noch originell sind, werden die Gerechten wohl weiterhin nach einer Lücke suchen – trotz Gerechtigkeitslücke. Ute Scheub