„Wir sind alle Todeskandidaten“

Ein Streifzug durch die bosnische Hauptstadt/ Der Gefechtslärm und die ständige Bedrohung durch Scharfschützen zehren an den Nerven/ Kein Strom, kein Wasser, kein Telefon, kein Entkommen  ■ Aus Sarajevo Paul Harris

Es ist 13.30 Uhr. Wir stehen vor dem schwerbewachten Beton- und Stahlgebäude der Post, in dem sich das UN-Hauptquartier in Sarajevo befindet. In der Umgebung erlebt man den deprimierend normalen Kriegsalltag: ständige Granateinschläge und Mörserfeuer; die peitschenden Schüsse der Scharfschützen; kurze Feuerstöße aus Maschinengewehren.

Das meiste scheint relativ weit entfernt zu sein, aber von Zeit zu Zeit kommt das Feuer ein bißchen näher. Wir versuchen, in das Gebäude zu gelangen, aber unseren Weg versperrt ein stämmiger und zahnloser französischer Legionär, der offensichtlich aus Glasgow stammt und George heißt. „Das Gebäude wird von 12 bis 2 zur Essenszeit geschlossen. Absolut kein Eintritt.“ George zeigt keine Neigung, sich auf weitere Diskussionen einzulassen.

300 oder 400 Meter entfernt schlägt eine Granate ein. Die zweistündige Essenspause wirkt mehr als nur ein bißchen obszön in dieser belagerten Stadt, in der die meisten Menschen, denen wir in den letzten Tagen begegnet sind, seit Monaten kein richtiges Essen gesehen haben.

Da wir mit den Besonderheiten des UN-Verhaltens nicht vertraut sind, suchen wir hinter einigen Sandsäcken Deckung. Ein paar Minuten später erscheint Sadmir. Er ist ein schmutziger, ungekämmter 12jähriger. Das ist auch kein Wunder: In diesen Tagen gibt es in Sarajevo kein fließendes Wasser. Mit Gesten macht er uns außerdem klar, daß er hungrig ist: Auch das ist keine Überraschung in einer Stadt, die von serbischen Streitkräften völlig eingekreist ist. Das Blut in seinem Gesicht scheint ihn nicht zu beeindrucken. Ein winziger Schrapnellsplitter hat das Fleisch über seiner Nasenwurzel aufgeschnitten. Mein Reisegefährte aus Edinburgh, Nigel Osborne, Musikprofessor, säubert mit einem antiseptischen Tuch die Wunde; die Augen von Sadmir werden groß, als ein Müsliriegel auftaucht. Eine Rolle Smarties aus den Tiefen meiner kugelsicheren Weste ruft ein Lächeln hervor. Eine kleine, amateurhafte Hilfsoperation.

Die Menschen in Sarajevo sind von der Anwesenheit der UN weder besonders beeindruckt, noch bringt sie ihnen großen Nutzen. Das gilt nicht nur für die Sadmirs der Stadt, sondern auch auf den höheren Regierungsebenen. Im einstmals eleganten Präsidentenpalast aus dem 19. Jahrhundert, der matt erleuchtet ist von Elektrizität aus Generatoren, blähen sich die Vorhänge vor den glaslosen Fensterrahmen im Wind. Wir befinden uns im Büro des Premierministers Bosnien-Herzegowinas, Zlatko Lagumdzija. Eigentlich Vizepräsident, ist er jetzt auch der amtierende Premierminister, nachdem sein Kollege Turalijc in einem Panzerwagen der französischen UN-Streitkräfte von einem serbischen Schützen erschossen wurde und ein anderer Kollege in der kroatischen Hauptstadt Zagreb festsitzt: Die UN weigern sich „aus Sicherheitsgründen“, ihn nach Sarajevo zurückzubringen.

Es ist nicht überraschend, daß Lagumdzija den UN vorwirft, sie „verletzten die Souveränität“ seines Staates, immerhin eines voll anerkannten Mitglieds der Weltorganisation. Lagumdzija war verantwortlich für die Politik, die Hilfe für Sarajevo abzulehnen, um die Aufmerksamkeit auf das Leid der Belagerten in Ostbosnien zu lenken, was unmittelbar die US- Abwürfe von Hilfsgütern zur Folge hatte. Das hat ihn bei den Herren Vance, Owen und Frau Ogata nicht beliebter gemacht. Aber die UN sind ja hier auch nicht gerade populär.

In den Straßen draußen werfen Kinder Steine auf die gepanzerten Fahrzeuge der UN, wenn sie durch die Stadt rumpeln. Und die Erwachsenen stellen alle die gleiche Frage: Wo liegt der Sinn all dieser Aufrüstung und Feuerkraft, wenn nicht darin, die Menschen hier zu beschützen?

Und währenddessen beschießen die belagernden Serben weiterhin unablässig die Hauptstadt. Es ist schwer, jemandem die Belastung und den Druck des Lebens unter einer Belagerung zu vermitteln, wenn er diese Erfahrung nicht selbst gemacht hat. Abgesehen von dem ermüdenden Gefechtslärm gibt es die ständige Drohung von Scharfschützen, die einen ins Visier nehmen können. Alle normalen Annehmlichkeiten des Lebens sind verschwunden. Es gibt kein fließendes Wasser, deshalb tragen jung und alt gleichermaßen Plastikbehälter herum, um für leckende Hähne, gelegentliche Wassertransporter auf den Straßen oder einen Wasserschlauch an einem Tank gerüstet zu sein.

Dennoch erlebt man eigenartige Szenen. In dem umkämpften Vorort Senderija wäscht ein Polizist seinen Golf GTI mit einem Schlauch aus einem Tank mit kostbarem Wasser. Eine Gruppe von Menschen wartet geduldig, daß er fertig wird, und stürzt sich dann auf den Schlauch: Für den ersten in der Reihe gibt es noch einen halben Kanister, dann versiegt der Strahl tröpfelnd. Der Vertreter von Gesetz und Ordnung poliert in aller Ruhe seinen Wagen zu Ende.

Es gibt auch keine Elektrizität. Und in der letzten Woche brach schließlich noch das Telefonsystem zusammen, das bisher noch für innerstädtische Anrufe funktioniert hatte. Die Läden sind geschlossen. Es gibt ganz einfach nichts mehr zu verkaufen. Auf der Marschall-Tito-Straße verkaufen die Menschen alte Bücher, um sich ein bißchen Geld zu verschaffen. Von Fleisch, Gemüse oder auch nur Dosennahrung ist keine Spur mehr zu finden, und vor den Bäckereien bilden sich ordentliche Schlangen, wenn es etwas gibt.

Die Schriftstellerin Tatjana Protrka aus Sarajevo schrieb vor einigen Wochen, daß „die Menschen nicht wissen, ob sie hysterisch oder apathisch sein sollen“. Es ist schwer zu entscheiden, ob die Menschen ihr Schicksal apathisch oder einfach fatalistisch ertragen. In der Marschall-Tito-Straße sieht man beunruhigend viele Gesichter mit dem verwirrten und leeren Ausdruck von Menschen, die zuviel erlebt haben; die die Grenzen normaler menschlicher Toleranz überschritten haben; die sich in ihr ungewisses Schicksal ergeben haben.

Es gibt eine kleine Insel der Privilegien und der Zuflucht in Sarajevo: das Hotel Holiday Inn. Für die Winterolympiade von 1984 gebaut, ist es das einzige noch funktionierende Hotel der Stadt. Es scheint eine stillschweigende Vereinbarung mit den Serben zu geben, daß es nicht beschossen wird: Zum letzten Mal traf eine Granate das Hotel im November. Für seine Gäste gibt es jedoch keinen Schutz vor den Scharfschützen. Bei der Ankunft rät einem die Rezeption, niemals — unter gar keinen Umständen — durch die Vordertür zu gehen. Auf dem Dach eines nahegelegenen Gebäudes, des Instituts für Anthropologie, lauert ein Scharfschütze.

Im Holiday Inn herrscht ein bißchen die Atmosphäre eines exklusiven Clubs. Abgesehen von etwa fünfzig Journalisten und Angehörigen von Fernsehteams gibt es keine anderen Gäste. Das Restaurant im ersten Stock dient zugleich als Raucherzimmer: Nur hier gibt es regelmäßig Strom von einem Generator.

Gegen Abend füllt der Raum sich mit erschöpften Reportern, die sich ihrer Kameras, Helme und kugelsicheren Westen entledigen, bevor sie sich zu dem setzen, was in Sarajevo an Luxus grenzt: Suppen in Dosen, Gemüse und Obst, das die tüchtigen Eigentümer auf dem Schwarzen Markt kaufen und für 30 Dollar pro Teller servieren. Geschichten von den Ereignissen des Tages machen die Runde um den großen Tisch. Irgendwie wirkt es ganz angemessen, den weißen Silavka von 1987 zu schlürfen, ebenfalls für 30 Dollar die Flasche. Danach sucht man in völliger Dunkelheit den Weg zurück in sein Zimmer. Taschenlampen sind von zweifelhaftem Wert, da sie die Scharfschützen anlocken können. Es ist das Privileg des Journalisten, daß er sich mit den Hercules-C- 130-Flugzeugen, die Hilfsgüter in die Stadt bringen, jederzeit den Schrecken von Sarajevo entziehen kann. Die belagerten Einwohner können das nicht.

Nur wenige können entkommen, wie die 18jährige Fardos Sultan, in Sarajevo geboren und aufgewachsen. Sie verabschiedete sich am 3. April des letzten Jahres von ihren Eltern, die zu einer zweitägigen Reise nach Belgrad aufbrachen. Am 5. April wurde der Flughafen von Sarajevo beschossen, als in den Straßen der Hauptstadt die Kämpfe ausbrachen. Fardos' Eltern kehrten nicht zurück, und so blieb sie allein in ihrer Wohnung in der Altstadt.

Im letzten September brachte ihr ein Radioamateur die Nachricht, daß ihre Eltern nach Mazedonien geflohen seien. Dann berichtete ein anderer, sie seien in Österreich in Sicherheit. Ende Oktober erfuhr sie, ihre Eltern hätten in der Republik Irland Zuflucht gefunden. Und im Februar erreichte sie die Nachricht, die irische Regierung halte in ihrer Botschaft in Zagreb ein Ticket und ein Visum für sie bereit. Das Problem: aus Sarajevo herauszukommen. Eine geheime Fluchtroute wurde für sie organisiert, die einzige Hoffnung für Dutzende andere wie Fardos. Aber schließlich landete sie sicher in Dublin. „Genau wie im Film mit einem Happy-End“, strahlte sie bei ihrer Abreise.

Kurz nachdem wir das Holiday Inn verlassen hatten und mit einem französischen Panzerspähwagen zum Flughafen fuhren, schoß ein Scharfschütze durch die Glastüren des Haupteingangs. Das Geschoß durchbohrte zwei Türen, eine Plexiglasscheibe, eine schwere hölzerne Tür und blieb tief in der Wand stecken. Nur Gott und die Ärzte können die schreckliche Wirkung ermessen, die dieses Geschoß in einem menschlichen Körper anrichten würde.

Kommen Sie nach Sarajevo, und machen Sie sich mit Ihrer eigenen Sterblichkeit vertraut! Wie uns der 19jährige Mirza auf der Marschall-Tito-Straße sagte: „Wir sind hier alle Todeskandidaten.“

Aus dem Englischen von Meino Büning