: Meinungsfreiheit, die Schweigen erzwingt
An der „University of Chicago“ diskutierten erstmals JuristInnen und AktivistInnen über gemeinsame Strategien gegen rassistische und sexistische Propaganda – eine unbequeme Koalition für die Pornoindustrie ■ Aus Chicago Andrea Böhm
Vor fast einem Jahr eröffnete ein Geschworenengericht im kalifornischen Simi Valley den Prozeß gegen vier weiße Polizisten. Der Vorwurf lautete auf exzessive Gewaltanwendung gegen den schwarzen Autofahrer Rodney King. Ein Anwohner hatte die Tat mit einer Videokamera gefilmt. 56 mal droschen die Polizisten innerhalb von 81 Sekunden auf den am Boden liegenden oder kriechenden King ein. Das Verfahren endete mit Freispruch.
Vor fast einem Jahr eröffnete ein Geschworenengericht in Lexington, South Carolina, den Prozeß gegen Dale Crawford. Die Anklage lautete auf Körperverletzung und Vergewaltigung von Patricia Crawford, die zum Zeitpunkt der Tat noch mit ihm verheiratet war. Dale Crawford selbst hatte die Tat mit einer Videokamera gefilmt. Rund dreißig Minuten lang ist zu sehen, wie er Patricia Crawford fesselt, mit einem Messer bedroht und mit einem Hammer auf sie einschlägt. Das Verfahren endete mit Freispruch.
Man möchte meinen, daß einem Staatsanwalt nichts Besseres passieren kann, als die Tat des Angeklagten nicht nur durch Zeugenaussagen und Indizien, sondern auch noch durch Filmaufnahmen beweisen zu können. Doch was die beiden Prozesse eint, ist die Ohnmacht der Bilder und die Macht der Manipulation aufgrund herrschender Vorurteile: Im Fall Rodney King hatten die Verteidiger der Polizisten gezielt, aber sehr subtil an den herrschenden Rassismus der Geschworenen appelliert, indem sie aus dem Opfer, das da mit Stiefeltritten, Knüppeln und elektrischen Schlagstöcken traktiert wurde, einen potentiell gefährlichen, weil schwarzen und massigen Angreifer machten. Jeder Flucht- und Kriechversuch, selbst eine plötzliche Kopfbewegung von Rodney King galt am Ende als mögliche Attacke, vor der sich die Polizisten schützen mußten. „Mit dem Freispruch“, so resümierte ein afroamerikanischer Pastor aus South Central, „wurde uns bedeutet: Das, was wir mit eigenen Augen gesehen haben, ist einfach nicht passiert.“
Das Videoband, auf dem Dale Crawford die Vergewaltigung seiner Frau festgehalten hat, ist nie im Fernsehen ausgestrahlt worden. Doch es wurde im Gerichtssaal von Lexington gezeigt. Die Öffentlichkeit wurde nicht ausgeschlossen. „Ich habe mich nie in meinem Leben so erniedrigt gefühlt wie in diesen Minuten der Verhandlung“, sagt Patricia Crawford heute. „Aber ohne das Videoband wäre nur mein Wort gegen seines gestanden.“ Am Ende schlug nicht nur sein Wort, sondern auch das Videoband gegen sie zu Buche. Indem Dale Crawfords Verteidiger geschickt auf herrschende sexistische Vorurteile abzielte, wurde aus der Vergewaltigung „Sex“, aus Schmerzensschreien Lustschreie, und aus dem Opfer eine willige Ehefrau und Komplizin. Am Ende galt Dale Crawfords Behauptung als wahr: Was da auf dem Video zu sehen ist, seien „Sexspiele“.
Es spielte bei dem Prozeß keine Rolle, daß sich Dale Crawford regelmäßig aus dem Porno-Regal des örtlichen Videoshops bediente. Ebensowenig fiel irgendjemandem auf, daß er die Vergewaltigung seiner Frau dazu genutzt hatte, selbst Pornographie zu produzieren. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß auch einige der Geschworenen Pornovideos konsumieren – und das, was ihnen da im Gerichtssaal geboten wurde, für „normal“, also für Sex, hielten. Möglich ist auch, daß gar niemand das Naheliegende erkennen wollte: Pornographie besteht nicht aus Bildern, die aus dem Nichts hergezaubert werden. Was durch Pornographie zu sehen ist, muß zuvor einer Frau real angetan werden.
„Pornographie ist kein Bild, sondern ein Beweisstück für die Prostitution von Frauen“, sagt die feministische Rechtswissenschaftlerin Meg Baldwin, wobei Prostitution durchaus im ursprünglichen Sinne, als Herabwürdigung zu verstehen ist. „Es ist ein Beweisstück, wie der Videofilm im Fall Rodney King eines war.“ Im Fall King, immerhin, ist es zu einem zweiten Verfahren gekommen. Im Fall Patricia Crawford wird es einen solchen Prozeß nicht geben. Der Schutz vor Vergewaltigung ist kein BürgerInnenrecht.
Die Parallelität dieser beiden Prozesse hatte Symbolcharakter für eine bislang einzigartige Konferenz Anfang März an der University of Chicago. Rund 600 VerfassungsrechtlerInnen, StrafverteidigerInnen, SoziologInnen, und AktivistInnen aus den USA und Kanada hatten sich an der juristischen Fakultät versammelt, um gemeinsame rechtliche und politische Strategien gegen Pornographie und das, was im juristischen Fachjargon in den USA „hate speech“ genannt wird, zu diskutieren. Mit letzterem ist in der Regel rassistische, antisemitische oder homophobische Propaganda gemeint.
Nicht eingeladen waren zu ihrem Leidwesen die Pornographieproduzenten und Vertreter jener Bürgerrechtsgruppen wie der „American Civil Liberties Union“, die die Verbreitung von Pornographie ebenso wie die Verbreitung von „hate speech“ durch das Grundrecht auf Meinungs- und Redefreiheit geschützt sehen. Erstmals öffnete eine hoch angesehene und politisch sogar eher konservative Universität ihre Hallen für JuristInnen und TheoretikerInnen, die bislang nicht gerade zum Mainstream der amerikanischen Rechtswissenschaften gehörten. Es kündigt sich da eine für die Porno-Industrie höchst unbequeme Koalition an: Sind Pornographie und „hate speech“ erst einmal analytisch miteinander verknüpft, haftet das Etikett der Prüderie und Zensurwut nicht mehr, das Pornoproduzenten und manche Bürgerrechtler der Anti-Porno-Bewegung so gerne anhängen.
Seit etwa zehn Jahren versuchen Feministinnen, basierend auf einem Entwurf der Juraprofessorin Catharine Mac Kinnon und der Schritstellerin Andrea Dworkin, auf der Ebene von Städten, Gemeinden und Bundesstaaten ein Gesetz durchzubringen, das Betroffenen die Möglichkeit gibt, zivilrechtlich gegen Produzenten und Vertreiber von Pornographie vorzugehen. Dworkin und Mac Kinnon definieren Pornographie als „graphische sexuell explizite Unterordnung von Frauen durch Bilder und/oder Worte“, indem zum Beispiel „Frauen, ihrer Menschenwürde beraubt, als sexuelle Objekte, Gegenstände oder Waren“ oder als „Objekte, die Schmerz und Erniedrigung genießen“, dargestellt werden. In mehreren Städten, darunter Minneapolis und Indianapolis, ist das Gesetz entweder am Widerspruch der Gerichte oder der Legislative mit der Begründung gescheitert, es verstoße gegen den ersten Zusatz zur US-Verfassung (First Amendment), der das Recht auf Meinungs- und Ausdrucksfreiheit garantiert.
Gleichzeitig haben sich Bürgerrechtsgruppen, antirassistische Organisationen sowie Schwulen- und Lesbengruppen in den letzten Jah„ren in zahlreichen Bundesstaaten für Gesetze gegen antisemitisch, rassistisch oder homophobisch motivierte Straftaten (hate crime) und Propaganda (hate speech) eingesetzt. Gesetzliche Maßnahmen gegen „hate speech“ hat der Oberste Gerichtshof im letzten Jahr faktisch blockiert, als er eine Verordnung der Stadt St. Paul, Minnesota, für verfassungswidrig erklärte, deren Formulierung dem bundesdeutschen Strafparagraphen gegen Volksverhetzung ähnelte. Anlaß im Fall St. Paul war die Verurteilung eines jungen Weißen, der im Garten einer benachbarten afroamerikanischen Familie ein Holzkreuz im Stile des Ku-Klux-Klan angezündet hatte. Der Stadt habe genügend juristische Möglichkeiten, gegen den Täter vorzugehen, so sinngemäß die Argumentation der Obersten Richter, zum Beispiel mit einer Anklage wegen Landfriedensbruch. Gezielt seine Gesinnung, ergo seinen Rassismus, zu bestrafen, verstoße jedoch gegen den ersten Zusatz zur US- Verfassung.
Dem (noch) herrschenden Primat der Meinungsfreiheit setzten die KonferenzteilnehmerInnen in Chicago eine Analyse herrschender Ungleichheit entgegen: Meinungsfreiheit existiert nicht im luft- und machtleeren Raum. Die Durchsetzung von Meinungsfreiheit der gesellschaftlich und politisch Mächtigeren geht auf Kosten der Meinungs-und Ausdrucksfreiheit der Schwächeren. „Pornographie“, so die Argumentation der Catharine Mac Kinnons, „ist die Sprache der Männer, die die Sprache der Frauen verstummen läßt.“ Analog läßt sich diese Struktur auch auf „hate speech“, also die erniedrigende und diskriminierende Propaganda gegen Minderheiten, übertragen.
Im Rahmen dieser Argumentation entdecken Feministinnen und die sogenannten „critical race theorists“ in den USA zwangsläufig einen weiteren gemeinsamen Ansatzpunkt, der letztlich die Grundlage für eine gemeinsame juristische und politische Strategie bildet: Die Überzeugung, daß es sich weder bei „hate speech“ noch bei Pornographie „nur“ um Worte, Bilder oder Phantasien handelt. Wer ein Kreuz im Garten einer afroamerikanischen Familie anzündet oder antisemtische Flugblätter verteilt, tut weit mehr, als seiner Meinung Ausdruck zu verleihe: Er agiert, schüchtert ein, übt Terror aus. Wer Filme oder Zeitschriften herstellt, in denen eine Vergewaltigung oder auch nur die scheinbar gewaltlose Degradierung zum Objekt als lustvolles Erlebnis für Täter und Opfer dargestellt werden, der lebt nicht nur Phantasien aus oder produziert sie für andere: Er agiert, vergewaltigt, schüchtert ein, übt Terror aus – bis zum „Snuff-Porno“, indem Frauen quasi als sexueller Höhepunkt des Mannes und Täters real ermordet werden. Die Sexualisierung von Gewalt und Entmenschlichung, so Andrea Dworkin in Chicago, lasse sie für den Unterdrücker überhaupt erst natürlich erscheinen. „Wer einen Orgasmus bekommt, weil er einem anderen Menschen weh tut, muß ja glauben, daß das, was er tut, richtig ist.“
In den USA finden solche Denkansätze noch keine Mehrheiten in den Gerichten oder Parlamenten, doch ein Blick über die Grenze nach Kanada bot den KonferenzteilnehmerInnen Anlaß zu Optimismus. Dort hat der Oberste Gerichtshof 1990 in einer Entscheidung Gesetze gegen „hate speech“ für verfassungskonform erklärt.
Ein Lehrer aus der Provinz Alberta hatte auf Verletzung seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit geklagt, nachdem gegen ihn Anklage erhoben worden war, weil er den Holocaust als Mythos bezeichnet hatte. In seinem Urteil erkannte das Gericht an, daß nicht jede Form der Meinungsäußerung schützenswert ist: „Neben dem Angriff auf die Würde von Mitgliedern der Zielgruppe besteht die Möglichkeit, daß vorurteilsbeladene Äußerungen an Glaubwürdigkeit gewinnen können – und somit Diskriminierung oder gar Gewalt gegen Minderheiten in Kanada nach sich ziehen können.“
Zwei Jahre später verblüfften die Obersten Richter erneut: In diesem Fall hatte ein Pornohändler aus der Provinz Manitoba auf Verletzung seines Grundrechts auf Meinungs- und Ausdrucksfreiheit geklagt, nachdem die Polizei auf Grundlage herrschender Gesetze gegen obszöne Literatur seinen Warenbestand konfisziert hatte. Die Urteilsbegründung des Gerichts liest sich zumindest für Nicht-KanadierInnen wie ein Stück aus Utopia: „Unter anderem zwingen entwürdigende und entmenschlichende Materialien Frauen (und manchmal auch Männer) in eine Rolle der Unterordnung, des servilen Gehorsams und der Erniedrigung. Sie verstoßen gegen die Prinzipien der Gleichheit und der Würde aller Menschen.“ Pornographie, so heißt es weiter, verletze offensichtlich gesellschaftliche Standards und Normen, „nicht weil sie gegen herrschende Moral verstößt, sondern weil sie in der öffentlichen Meinung als schädlich für die gesamte Gesellschaft, besonders aber für Frauen angesehen wird.“
Während die Feministinnen in Kanada jubelten, stiegen Verfechter der absoluten Meinungsfreiheit, vor allem aber Schwulen-und Lesbengruppen auf die Barrikaden. „Sie haben Angst“, so berichtete in Chicago der kanadische Jurist Chris Kendall, „daß sich Polizei und Staatsanwaltschaft als erstes auf schwule und lesbische Pornographie stürzen.“ Kendall lieferte auf der Konferenz eine kritische Analyse schwuler Pornographie, in der nach seiner Ansicht Gewalt und Subordination ebenso sexualisiert und erotisiert werden wie in heterosexueller Pornographie.
Über solche Denkanstöße ist man in der Schwulen-und Lesbenbewegung wenig entzückt. Auf den Konferenzen und Symposien sowie in den Zeitschriften von Schwulen- und Lesbenorganisationen kommt Kendall nicht zu Wort. Stattdessen muß er aufgrund seiner wissenschaftlichen Arbeit zunehmend Beschimpfungen und Drohungen aus der Schwulenszene in Kauf nehmen.
Wie der Kampf gegen Pornographie außerhalb der geschützten Atmosphäre akademischer Konferenzen verläuft, davon berichteten in Chicago zahlreiche Aktivistinnen. Frauen beschrieben, wie sie am Arbeitsplatz von Männern gezwungen wurden, pornographische Filme mit anzusehen. Ehemalige Prostituierte, die sich in der Selbsthilfeorganisation „WHISPER“ zusammengeschlossen haben, berichteten, wie Pornographie in Bordellen, Massagesalons oder sogenannten „Escort Services“ von Kunden quasi als Bestellvorlage für sexuelle Praktiken benutzt wurden. Ann Simonton, Gründerin der Gruppe „Media Watch“, schilderte den Fall einer Pornodarstellerin, die schon als Sechsjährige gezwungen wurde, die Produktion eines „Snuff“-Pornos mitanzusehen.
Und schließlich sprach Barbara Trees, Bauarbeiterin und Gewerkschafterin aus New York, die den alltäglichen Spießrutenlauf von Frauen in „Männerbastionen“ schilderte. Morgens ein Schild „Men Only“ am Arbeitsplatz vorzufinden, gehört im Vergleich zu verbalen Drohungen und sexuellen Belästigungen noch zu den harmloseren Erlebnissen. Die Pornobilder, die ihr männliche „Kollegen“ immer wieder an den Spind kleben, sind für sie alles andere als eine „Meinungsäußerung“. Genauso wie das brennende Kreuz im Garten der afroamerikanischen Familie ist es die klare Aufforderung, zu verschwinden.
Was Barbara Trees nicht getan hat. Stattdessen müssen sich New Yorks Bauarbeiter nun mit einer Frauengewerkschaft herumschlagen – und vielleicht, wenn sich die Lernfähigkeit der kanadischen Richter auf ihre amerikanischen Kollegen übertragen sollte, bald auch mit einem Gesetz gegen Pornographie.
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