Boris Jelzin hat im Machtkampf mit seinen konservativen Widersachern zum letzten Mittel gegriffen: die Einführung einer Präsidialverwaltung. Die Reaktion des machtvollen Kartells von Opponenten folgte nur Minuten nach der Fernsehrede Jelzins; unisono verurteilten die Reformgegner den Schritt als „Verfassungsbruch“, „Staatsstreich“ oder als Beginn einer „Diktatur“.

Der Löwe fordert seine Bändiger heraus

Es sah aus wie ein Akt der Verzweiflung, als Präsident Jelzin am Samstag abend eine präsidiale Herrschaft über die Russische Föderation verhängte. Bis zum 25. April, dem Tag des geplanten Referendums, besitzen nur Erlasse und Verordnungen des Präsidenten Gültigkeit. Gegenmaßnahmen, die die oppositionelle Legislative ergreifen sollte, erklärte er im Vorgriff für gesetzeswidrig. Natürlich ist klar, daß die konservative Opposition um den Parlamentschef Ruslan Chasbulatow die Anordnungen des Präsidenten nicht befolgen wird. Denn in dem seit Monaten anhaltenden Kampf um die Macht war es Rußlands höchstes gesetzgebendes Organ, der Volksdeputiertenkongreß, der auf seiner letzten Sitzung vor zwei Wochen den Präsidenten seiner Sondervollmachten beraubt hatte.

Die „außerordentlichen Maßnahmen“ kamen nicht unerwartet. Nach der demütigenden Niederlage gegen die Gesetzgeber, die sukzessive jeglichen Reformprozeß eindämmen wollen, hatte der Präsident den Bürgern seine Bereitschaft zu entschlossenem Handeln schon angekündigt. In seiner Fernsehansprache vom Samstag hielt Jelzin am geplanten Referendum, das ursprünglich über Rußlands weitere politische Verfaßtheit entscheiden sollte, fest. Nur wird in seiner neuen Variante die Vertrauensfrage über den Präsidenten und seinen Vize Alexander Ruzkoi an erster Stelle stehen. Gefolgt von der Frage über die Zukunft Rußlands: präsidentielle oder parlamentarische Demokratie? Außerdem sollen die Bürger über den Privatbesitz an Grund und Boden entscheiden. Ein Punkt, den die konservative und reaktionäre Mehrheit des Parlaments meidet wie der Teufel das Weihwasser.

Jelzins Schritt ist mehr als riskant. Einziges Faustpfand, das zunehmend an Gewicht verliert, ist seine Wahl zum Präsidenten vor gut zwei Jahren. In den ersten freien Wahlen, die diese Bezeichnung verdienten. In seiner Rede tauchte dieses Element denn auch mehrfach auf: „Ich habe mich zu diesem Schritt entschlossen, weil ich nicht vom Kongreß und nicht vom Obersten Sowjet gewählt wurde, sondern vom Volk.“ Jelzin wuchert nicht mit diesem Pfand. Er muß sich also seines Vabanquespiels ganz und gar bewußt sein. Doch hatten ihm die Entwicklungen der letzten Wochen, die zur Lähmung der politischen Entscheidungsfindung führten, kaum eine andere Option offengelassen. Ginge er mit der Vertrauensfrage nicht ins Volk, würde die alte schmarotzende Parteinomenklatura in den Provinzen des Landes schleichend die Macht übernehmen. Nicht durch einen kalten Putsch, sondern mittels der scheinheiligen Debatte um eine neue Verfassung. Die Gralshüter der überdauerten Verteilerprivilegien, Industriedirektoren und Kolchosfürsten wollen alles andere als eine neue Konstitution.

Um so waghalsiger – aber somit auch unumgänglich – scheint Jelzins Handeln, nachdem sich Vizepräsident Ruzkoi in einer üblen Stellungnahme gegen die Präsidialherrschaft und den Präsidenten ausgesprochen hat. Er warf ihm vor, in 18 Punkten gegen die gültige Verfassung zu verstoßen: „Dieser Befehl wird zu einem Bruch in Staat und Gesellschaft führen. Große Dispute werden in der Gesellschaft beginnen, denen der Einsatz von Gewalt und Blut folgen werden.“ Die politische Weitsicht des hochdekorierten Afghanistankämpfers Ruzkoi beschränkt sich gewöhnlich auf düstere Kriegsszenarien. Mehr hatte er zur politischen Diskussion eigentlich nicht beigetragen.

Vertrauen auf die Unterstützung des Volkes

Der opportunistische Vorsitzende des jungen russischen Verfassungsgerichts, Valerie Sorkin, blies in dasselbe Horn: „In der Tat sehen wir uns mit einem Putschversuch konfrontiert.“ Er hatte sich seit längerem der Position der um Ruzkoi gescharten Zentristen im Parlament angenähert. Eher machtpolitisches Kalkül, denn der Glaube an den Buchstaben des Gesetzes waren dabei keine federführenden Motive. Denn die Verfassung, ein Steinbruch widersprüchlicher Rechtssätze, läßt sich in keine Richtung eindeutig interpretieren. Eine an der politischen Wirklichkeit orientierte Verfassungsrechtsprechung hingegen hätte gute Argumente auf ihrer Seite, Jelzins Anliegen zu untermauern. Denn ihr dürfte es nicht verschlossen sein, daß der Präsident aus einem paradoxalen Zustand heraus agiert: Er muß die alte Verfassung, die ihn blockiert, überwachen respektive sie einhalten. Gleichzeitig lautet sein Auftrag, die Revision eben dieser Verfassung voranzubringen. Im Schulterschluß mit einem Parlament, mit dem Reformen nicht durchsetzbar sind.

Die Opposition verlangt vom Verfassungsgericht, es solle sich mit Jelzins „außerordentlichen Maßnahmen“ befassen. Aller Voraussicht nach wird es sein Handeln für nicht verfassungskonform erklären. Das Land ist also weiterhin paralysiert. Entscheidend kommt es jetzt auf das Verhalten der Sicherheitskräfte, des Geheimdienstes und der Armee an. Jelzin verfügte, daß die Armee sich aus dem politischen Geschehen heraushalten soll. Angeblich, so verlautete aus dem Umkreis des Präsidenten, habe man die Zusicherung der zuständigen Ministerien, daß sie strikte Neutralität üben werden. Währendessen rief Chasbulatow die Sicherheitskräfte dazu auf, die Seite der „Verfassung“ zu ergreifen – also die Dinosaurier des Bolschewismus gegen den Gang der Evolution zu verteidigen.

Gleichzeitig kündigte das Parlament in einer Sondersitzung an, den Präsidenten über ein Amtsenthebungsverfahren zu vertreiben. Doch auch das läßt sich nicht auf die schnelle machen, soll die vielbeschworene alte Verfassung nicht aufs neue verletzt werden. Selbst das würde einige Wochen in Anspruch nehmen und die Lage qualitativ nicht verändern.

Jelzin setzt ein letztes Mal auf die Mobilisierung der Bevölkerung. Sein Fernsehauftritt war darauf zugeschnitten. Der Maßnahmenkatalog, den er dort vorstellte, beinhaltete konkrete Schritte in der Wirtschaftspolitik. Selbstverständlich wurden dabei populistische Momente nicht ausgelassen – wie etwa den erhöhten Schutz von Arbeitslosen, Rentnern und kinderreichen Familien. Zum ersten Mal wurden die Bürger vom Präsidenten über wirtschaftliche Zusammenhänge aufgeklärt. Die miese Wirtschaftslage sei ein Ergebnis der kommunistischen Mißwirtschaft, einer Wirtschaft, die auf Kosten der nachfolgenden Generationen über ihre Verhältnisse gelebt hat; und dieselben Leute, die Nomenklatura, führten heute wieder das Wohl des Volkes im Munde. Kommt das Referendum zustande – auch gegen den Widerstand der alten Kräfte –, wird Jelzin noch einmal auf das Vertrauen des Volkes bauen können. Es wird für den verwöhnten Volkstribun bescheiden ausfallen, aber reichen. Umfragen aus den industriellen Zentren des Landes unterstreichen diesen Trend. Die Deputierten fürchten es, denn es wäre das Aus für Kongreß und Parlament. Jelzin tanzt auf dem Seil und ohne Netz. Aber es war auch keins in Reichweite. Klaus-Helge Donath, Moskau