Die Widersacher Jelzins blasen zum Gegenangriff

■ Das russische Parlament leitet Verfahren zur Amtsenthebung ein: Verfassungsgericht wird Jelzins Erlaß zur Präsidialherrschaft überprüfen

Moskau (taz) – Der Oberste Sowjet, das russische Parlament, hat gestern das Verfahren zur Amtsenthebung von Präsident Jelzin eingeleitet, nachdem dieser am Vorabend in einer Fernsehansprache Präsidialherrschaft über die Russische Föderation verhängt hatte. Die Abgeordneten beschlossen mit überwältigender Mehrheit, das Verfassungsgericht um eine Überprüfung von Jelzins Sondererlaß zu ersuchen. Falls das höchste Gericht ihn als verfassungswidrig einstuft, kann der Kongreß der Volksdeputierten Jelzin des Amtes entheben. Der Oberste Sowjet ist dazu nicht befugt. Weiter fordert der Oberste Sowjet den Generalstaatsanwalt auf, Verfahren gegen Jelzins Berater einzuleiten. Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Walerie Sorkin, hatte Jelzin zuvor vor dem Parlament bereits des Verfassungsbruchs bezichtigt. Der Kongreß der Volksdeputierten will am Mittwoch eine Sondersitzung einberufen, der Oberste Sowjet tritt heute morgen erneut zusammen.

Jelzin hatte in der Fernsehansprache angekündigt, am 25. April auch gegen den Willen der Legislative das geplante Referendum über Rußlands zukünftige Verfassung abzuhalten und sich mit der Vertrauensfrage ans Volk zu wenden. Bis dahin soll die noch gültige Verfassung außer Kraft bleiben. In einer Sondersitzung der Regierung stellte sich das Kabinett geschlossen hinter den Erlaß des Präsidenten und verabschiedete eine Resolution: „Die Regierung der Russischen Föderation unterstützt einstimmig den öffentlich gewählten Präsidenten und die Haltung, die er in seiner Adresse an die Nation zum Ausdruck gebracht hat.“ Auch die entscheidenden Ministerien für Inneres, Sicherheit und Verteidigung unterzeichneten das Dokument. Vor das Parlament zitiert, verpflichteten sich die Minister aber, nur im Einklang mit der Verfassung zu handeln. Bei den Abgeordneten rief das Irritation hervor, denn beide Seiten reklamieren die Verfassung für sich. Verteidigungsminister Gratschow warnte vor allem vor Versuchen der konservativen Gruppierung „Offiziersunion“, die Streitkräfte in den politischen Machtkampf hineinzuziehen. Alle Sicherheitsorgane beteuerten allerdings, die Streitkräfte aus dem Konflikt herauszuhalten. Unterdessen sollen die Regierungsmitglieder Waffen erhalten haben. Gestern morgen unterstellte Jelzin die Wachtruppen des Kreml seinem direkten Befehl.

In der Parlamentssitzung hatte Jelzins ehemaliger Gefolgsmann, Vizepräsident Alexander Ruzkoi, den Präsidenten beschuldigt, in 18 Punkten gegen die Verfassung verstoßen zu haben. Allerdings räumte er ihm später überraschend das Recht ein, sich mit der Vertrauensfrage ans Volk zu wenden. Premierminister Tschernomyrdin, im Dezember vom Kongreß mit großer Mehrheit gewählt, hatte an die Deputierten appelliert, keine überhasteten Entscheidungen zu fällen.

Der Vorsitzende des Parlamentes, Ruslan Chasbulatow, Jelzins ärgster Gegenspieler, hatte seine Goodwilltour durch einige GUS-Staaten, wo er Unterstützung gegen Jelzin gesucht hatte, vorzeitig abgebrochen. Vor dem Parlament sagte er dann: „Das Land steht vor der Bedrohung einer Rückkehr zu neototalitärer Herrschaft, Desintegration und Diktatur.“ Die Lage auf Moskaus Straßen blieb relativ ruhig. Beide Seiten konnten nur jeweils etwa fünftausend Demonstranten aufbieten.

Im Ausland hat Jelzins Erlaß breite Unterstützung gefunden. Die USA, Deutschland, Frankreich und andere Länder begrüßten vor allem die geplante Volksabstimmung über die zukünftige russische Verfassung. Hinsichtlich der Präsidialverwaltung betonten Politiker mehrerer Länder deren zeitliche Begrenzung. Der Präsident sei im Gegensatz zum Parlament durch eine demokratische Wahl legitimiert. Bonns Regierungssprecher Dieter Vogel erklärte, die Bundesregierung verbinde mit Jelzins Maßnahmen die Hoffnung auf einen friedlichen Ausweg aus der Verfassungskrise. Dagegen warnte der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Karsten Voigt, davor, einseitig für Jelzin Partei zu ergreifen: „Es stehen nicht auf der einen Seite nur die Guten und auf der anderen Seite nur die Bösen.“ khd Seiten 3 und 12