Kassandra aus dem Sack

■ Davud Bouchehri inszenierte Aischylos 'Agamemnon–, der "Orestie" erster Teil, in der Opera Stabile

, der „Orestie“ erster Teil, in der Opera Stabile

In seinen zehnjährigen, vor Troja reichlich verspeckten Turnschuhen landet der Bote mit beachtlichem Hechtsprung auf den kühlen Fliesen des heimischen Marktplatzes: „O Erde meiner Väter“ preßt, drückt und spuckt er heraus. Griechenland hat ihn wieder!

So oder so ähnlich hat sich diese Szene vor circa 2500 Jahren nicht abgespielt. Damals, bei der Uraufführung von Aischylos' Orestie, mögen bis zu 17000 Menschen im sonnenbeschienenen Halbrund des Dionysostheaters gesessen haben. Mit Blick auf das himmelblaue Meer und die farbig bemalten Masken der Schauspieler. Es war ein Fest, drei Tage im April. Ein Fest des Staates, der Polis. Diese Zeiten sind vorbei. Geblieben ist eine einzige erhaltene Trilogie: die Geschichte der Heimkehr Agamemnons aus Troja, seiner Ermordung und schließlichen Rache durch den Sohn Orest und dessen Sühne. Drei lange Teile der Orestie, die von Blutschuld, Opfer und Rache handeln.

Heute befinden wir uns in der Opera Stabile. Keine Sonne wärmt uns, kein Meerblau blitzt. Davud Bouchehri, ehemals Dramaturg an den bankrotten Kammerspielen unter Ursula Lingen, inszeniert Agamemnon; Teil eins des Metzelmythos. Unser Blick fällt auf ein kleines quadratisches Bühnenpodest mit gelben Steinplatten, einen Wasserhahn mit Becken und den Chor. Der Chor der Alten besteht aus dem alten Kurt Meisel. Und damit der Chor nichts vergißt, liegt ein dickes Textkonvolut vor ihm auf dem Tischchen. Der Chor vergißt trotzdem. Neben ihm hockt ein kleiner Junge, den es so oder so vor zweitausend Jahren nicht gegeben hat. Ein Einfall also. Der kleine Junge singt dann und wann mit hellem Knabensopran kleine Melodien. Dazu trommelt Bruno Caillat. Er sitzt etwas abseits und strukturiert mit seinen persischen Instrumenten den Text. Auch ein Einfall. Rechts führt eine Stahltreppe hoch zur Beleuchtergalerie, dort oben steht die Königin, das ist Andrea Bürgin in safrangelben Leinen. Sie spielt laut, energisch und etwas pathetisch; kurz: wie eine moderne Königin, die schon mehrere Jahre im Engagement ist. Unten, auf den Fliesen, steht Agamemnon, breitbeinig in Landserstiefeln. Er spielt laut, energisch und ziemlich pathetisch; kurz: wie ein moderner Diktator, der gerade die Schauspielschule absolviert hat.

Kassandra steckt im Sack. Kas-

1sandra schreit und wimmert, sie heult und läuft gegen die Wand. Denn Kassandra muß sterben. „Ich bitte um wohlgezielten Hieb“, sagt sie und verschwindet. Das Publikum ist geduldig und freut sich

1jetzt langsam auf das blutige Ende. Die Königin zeigt ein gewaltiges Küchenmesser und ist professionell betroffen von ihrer Mordestat. Kurt Meisel als Chor schimpft. Er spricht von Rache und wir wissen:

1es wird einen zweiten Teil geben. In der Opera Stabile. Dann sind wir entlassen, nach zwei langen Stunden, in die funkelnden Einkaufsstraßen der nachtdunklen Stadt. Martin Koziullo