■ Jelzins Präsidialverwaltung und das weite, weite Rußland: Die Provinz wird entscheiden!
Selbst in einem hochzentralisierten Staat verzerrt der hauptstädtische Blick die Optik. Das gilt um so mehr, wenn die Staatsarchitektur aus den Fugen gerät und die Provinzpotentaten, statt angstvoll des Revisors aus der Residenz zu harren, unverschämt werden und darauf pfeifen, was sich in der Hauptstadt so tut. Nikolai Gogol, der sich übrigens keineswegs als Klein- sondern als Großrusse fühlte, hätte der jähen Umkehrung des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie in seinem Heimatland sicherlich eine satirische Pointe abgewonnen. Ihm hätte der Wettlauf der Emissäre Jelzins und Chasbulatows in der Hauptstadt eines x-beliebigen Krajs oder Oblasts (mindestens 3.000 Werst von Moskau entfernt) um die Gunst des lokalen Gewaltigen ebenso als Material dienen können wie die Manöver, mittels derer der letztere, die Moskowiter gegeneinander ausspielend, immer mehr Zugeständnisse und Kompetenzen für seinen eigenen Herrschaftsbereich herausgeschlagen hätte.
Ob die präsidiale Direktverwaltung Jelzins erfolgreich bis zum Referendum führt oder jämmerlich fehlschlägt, wird nicht in Moskau oder St. Petersburg, sondern in der Provinz entschieden. Dort aber sieht es so aus, als ob Boris Borissowitsch die besseren Karten hätte. Der im März 1992 abgeschlossene Föderationsvertrag konstituierte Rußland als Bundesstaat und übertrug den Republiken und Autonomien weitgehende Befugnisse. Die Verfügung über die Naturressourcen und das Recht nahezu selbständigen Wirtschaftens blieb allerdings den nichtrussischen Bundesstaaten und Gebieten vorbehalten. Außer den Tschetschenen und Tataren waren die Nichtrussen zufrieden, wohingegen die russischen Krajs, Oblasts und Okrugs seither lauthals Dezentralisierung und gerechte Verteilung des Steueraufkommens fordern. Hier kann Jelzin, auch mit dem Vorschlag eines künftigen Zweikammersystems, das bessere Angebot machen. Die Bürger-Union könnte nachziehen, aber die Rot-Braunen, die nach Wiederaufrichtung des Einheitsstaats dürsten, sind hier für keine Konzession zu haben.
Solche vernunftgeleiteten Interessenkalküle könnten allerdings daran scheitern, daß es in der Provinz oftmals an Agenturen fehlt, die in der Lage wären, sie politisch „zu übersetzen“. Das Parteienwesen ist noch unentwickelter als in den Zentren, die von Jelzin eingesetzten Bevollmächtigten können sich auf keinerlei regionale Kräftekombinationen stützen, allerorten versuchen Schwindler und lokale Autokraten ihr Glück. In den örtlichen wie überregionalen Sowjets verteidigen die Mini-Chasbulatows ihre Pfründe. Ein vermintes Gelände. Aber zum Schluß, am 25. April, wird in Saratow oder Irkutsk nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner entschieden, dem, der der eigenen Entwicklung frommt. Christian Semler
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