Bonn? Berlin! Bonn? – Seit Juni 1991 ist der Umzug von Bun- destag und Regierung an die Spree beschlossene Sache. Seither wird jedoch die Front der überwiegend westdeutschen Bonn- Lobbyisten immer breiter. Eine Reihe von Hinterbänklern drängt auf die Verschiebung des großen Trecks, in der Haupt- stadt indes wurde über Ministerien-Standorte entschieden.

Bahnbrechendes im Schneckentempo

Neuerdings eilt der CSU- Bundestagsabgeordnete Simon Wittmann bei Diskussionen mit Bürgern, so beschreibt er das, „von Ovation zu Ovation“. Die Beifallsstürme, die den in Bonn bisher weithin unbekannten oberpfälzischen Abgeordneten bei seinen Auftritten auf dem flachen Land beflügeln, gelten einem Antrag, den der CSU-Mann vor knapp drei Wochen gemeinsam mit Unionskollegen formulierte. Der Umzug von Bundestag und Bundesregierung in die Hauptstadt solle um fünf Jahre verschoben werden, wird da gefordert. Vorerst dürfe in Berlin keine müde Mark investiert werden.

Schon über 80 Unterschriften von Unionskollegen hatte der CSU- Mann bisher gesammelt, da konnte er gestern seine Front noch verbreitern: Mit den Initiatoren eines zweiten Antrages, die vor allem aus SPD und FDP kommen und erst im Jahr 2010 umziehen wollen, einigten sich die CSU-Leute auf einen Kompromißantrag. Als Umzugstermin, so der SPD-Abgeordnete Hans-Martin Bury, „streben“ nun beide Gruppen das Jahr 2010 an. Fünf Jahre lang soll sowohl in Berlin wie in Bonn ein Baustopp für Regierungsbauten gelten. Die weitgehend unabhängig vom Regierungsumzug geplanten Infrastrukturvorhaben an der Spree sollen weiterverfolgt werden. Die 120 Unterzeichner, die beide Gruppen insgesamt bisher gewonnen hatten, müssen nun nur noch gefragt werden, ob sie dabei bleiben.

Zuspruch für Bonn-Lobby angesichts leerer Staatskassen

Der ostdeutsche SPD-Vormann Wolfgang Thierse, der sich den Regierungssitz Berlin als „Gegengewicht im schiefen Staatsschiff Deutschland“ wünscht, ist alarmiert. Es sei doch „dreist“, daß der Versuch der Besitzstandswahrung West nun auch noch als „Beitrag zum Solidarpakt“ verkauft werde, schimpfte er gestern. Doch Wittmann, Bury und ihre Anhänger, die schon vor zwei Jahren im Bundestag fast alle gegen den Umzug nach Berlin gestimmt hatten, können sich inzwischen angesichts leerer Staatskassen auf satte Umfragemehrheiten in Westdeutschland stützen.

Im Bundestag haben sie jetzt auf alle Fälle genug Unterstützer, um den Antrag auch ohne den Segen der Fraktionsführungen einbringen zu können. Spätestens im Herbst, vielleicht aber schon im Mai oder Juni, so hofft Bury, könnte über den Antrag im Parlament abgestimmt werden. Das wäre ziemlich genau zwei Jahre nach dem Beschluß vom 20.6.1991, der verlangt hatte, spätestens 1997 den Bundestag und die Spitzen der Regierung an die Spree zu verlagern.

Noch ist bei den Berlinern nicht die nackte Angst ausgebrochen. Gerd Wartenberg, Chef der Berliner SPD-Landesgruppe im Bundestag, glaubt immer noch: „Die bekommen keine Mehrheit.“ Er verweist auf die Chefetagen: Selbst diejenigen, die wie SPD-Fraktionschef Hans-Ulrich Klose seinerzeit für Bonn gestimmt hatten, wollen sich heute an den geltenden Beschluß halten. Daß sie das tun, liegt aber auch an ihrer Ahnung, daß der Treck vom Rhein an die Spree ohnehin länger dauern wird als geplant. Selbst im Kanzleramt belächelt man die Versuche von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU), den ursprünglich von ihr bekämpften Umzug nach Berlin nun termingerecht abzuschließen.

Auf die Stimme des nur halbherzigen Berlin- Befürworters Helmut Kohl dürfen die Protagonisten eines neuen Beschlusses dennoch nicht hoffen. Mindestens zehn Ex-Berliner müßten sie auf ihre Seite ziehen, um bei einer neuen Abstimmung zu obsiegen. Wittmann ist zuversichtlich: „Ich glaube, die kriegen wir.“ Bisher sind es immerhin schon zwei oder drei, die die Fahnen gewechselt haben, etwa der holsteinische CDU- Abgeordnete Helmut Lamp. Im Zweifelsfall würde er zwar „wieder für Berlin stimmen“, sagt er. Nur, „solange wir Sozialleistungen kürzen müssen“, könne man nicht Milliarden in Berlin ausgeben.

„Verschwendung, daß die hier in Bonn noch rumbasteln“

Hans-Ulrich Klose ermahnte Bury am Montag im SPD-Fraktionsvorstand, den Antrag doch einstweilen zurückzustellen. Bury ließ sich dadurch nicht beirren. Er sei sich mit Klose „absolut einig“, sagte der SPD-Abgeordnete gestern, daß der Antrag nicht vor Mai in den Bundestag kommen solle. Auch CDU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble kann sich gegenüber den Aufrührern in seinen Reihen nicht mehr durchsetzen. Er versuchte schon vor zwei Wochen, Wittmann und seine Kompanie ihren Antrag auszureden — vergeblich.

Zuvor hatte Schäuble selbst mit Äußerungen, die sich als ein Plädoyer für einen beschleunigten Umzug lesen ließen, den Sturm der Hinterbänkler erst entfacht. Die Nerven vieler Abgeordneten lagen ohnehin schon bloß. In ihren Wahlkreisen seien zuvor großspurige Worte von Süssmuth „wie eine Bombe“ eingeschlagen, sagt Wittmann. Daß für Berlin, wie Süssmuth meinte, nur „das Beste gut genug“ sei, das hätten ihm die Bürger im Wahlkreis in den letzten Wochen immer wieder vorgehalten.

Zunehmend beginnen nun auch die Berlin-Befürworter im Bundestag, die neuen Anträge ernst zu nehmen. Sollten sich die Verschiebungsfreunde nicht bremsen lassen, „wird ein Alternativantrag auf den Tisch kommen“, prognostiziert der niedersächsische CDU-Abgeordnete Dietmar Kansy. Wenn schon gespart werden müsse, fragte unlängst der SPD- Mann Wartenberg, warum dann nicht an dem 640 bis 800 Millionen Mark teuren Neubau für ein Abgeordnetenhaus im Bonner Regierungsviertel, der noch nach dem Berlin-Beschluß begonnen wurde? Das sei doch „die Verschwendung, daß die hier in Bonn immer noch rumbasteln“.

Diesem Kritikpunkt haben die Verschiebungsbefürworter inzwischen Rechnung getragen, indem sie auch für Bonn einen Baustopp fordern. Auch Bury konnte gestern allerdings nicht die Frage beantworten, ob sich in die laufenden Verträge für die Milliardenbauten am Rhein noch eingreifen läßt. In Berlin ist das weniger schwierig: Dort ist praktisch alles noch im Planungsstadium.

Warum nicht kostengünstig mieten statt bauen...

Mit neuen Gegenrechnungen versuchen die Berliner nun dagegenzuhalten. Ein Umzug nach Berlin könne billiger sein, als in Bonn auszuharren, behauptet Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU). Ohne den Regierungsumzug, so seine Befürchtung, würden Investoren ihr Interesse an Berlin verlieren. Das mit 13 Prozent Arbeitslosigkeit geplagte Berlin drohe dauerhaft subventionsabhängig zu werden. Ein rascher Umzug, so Diepgens Fazit, könne deshalb „Steuern sparen“.

Fest steht, daß die Berlin-Gegner bisher mit „Phantasiezahlen“ hantieren, wenn sie vor Umzugskosten von 50 bis 70 Milliarden warnen. Dietmar Kansy, der als Vorsitzender der Baukommission des Bundestages Fachkompetenz für sich in Anspruch nimmt, glaubt, es besser zu wissen. Offiziell, so der Abgeordnete, hatte der Bundestag bisher Baukosten von gut 13 Milliarden errechnet. Und auch auf diese Summe sei man nur deshalb gekommen, weil Parlament und Regierung in Berlin weitaus mehr Bürofläche bauen wollen, als sie in Bonn zur Zeit nutzen. Der „Gigantismus“ in Berlin sei bislang meist von den Bonnern ausgegangen, die in den Ministerien am Rhein wider Willen die Pläne für ihren eigenen Umzug ausarbeiten müssen, schimpft Thierse. Da würden Kosten „kräftig hochgerechnet“, „um den Umzug zu diskreditieren“, wettert der Stuttgarter SPD-Abgeordnete und Architekt Peter Conradi.

Prunk und Protz für Berlin plante etwa die Bonn- Befürworterin und Bauministerin Irmgard Schwaetzer (FDP), als sie vor einigen Wochen Neubauten sowohl für das Außen- wie das Wirtschafts- und das Innenministerium verlangte. Die Berliner protestierten lautstark, weil sie darin einen Versuch sahen, Umzugskosten und -dauer nach oben zu treiben. Kaum war Jürgen Möllemann durch den Berliner Günther Rexrodt als Wirtschaftsminister abgelöst, mußte Schwaetzer ihre Neubaupläne für das Wirtschaftsministerium einstampfen. Rexrodt genügt ein Altbau an der Spree: das für viele Millionen renovierte Treuhandgebäude ist dem Ex-Treuhanddirektor Rexrodt gut genug.

Warum, so fragt Kansy, könne man in Berlin nicht auf den Kauf und Bau von Gebäuden verzichten und statt dessen Bürogebäude mieten? Auch in Bonn sei die Hälfte der 4.000 Bundestagsmitarbeiter zur Miete untergebracht. 25 Millionen Mark gibt der Bundestag in Bonn jährlich für Mieten aus. Es sei „das erfolgreiche Bonn-System“, ergänzt Radunski, nicht überall zum „Eigenheimer“ zu werden.

Das passende Symbol setzte dieser Tage Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Er kündigte an, spätestens im März 1994 nach Berlin zu ziehen. Weizsäcker schafft damit nicht nur Fakten für den Umzug, sondern auch gegen die Verschwendung. Er verzichtete auf das Kronprinzenpalais in Berlin-Mitte, dessen Ausbau 500 Millionen Mark kosten sollte und nahm mit seinem bisherigen Amtssitz im Schloß Bellevue vorlieb. Nicht nur der Berliner Senat bejubelte dieses „Zeichen“ aus dem fernen Bonn. Die Entscheidung des Präsidenten löste auch bei Wittmann Freude aus. Seine Sparsamkeitsappelle, vermerkte der bayerische Abgeordnete stolz, hätten offenbar „gewirkt“. Hans-Martin Tillack, Bonn