Etappensieg für Boris Jelzin

■ Verfassungsgericht entschied pro Referendum, kritisiert aber Präsidialherrschaft

Moskau/Berlin (taz) – Einstweilen Entspannung für die Reformer: „Der russische Präsident hat das Recht, ein Referendum über seine Politik durchzuführen.“ So lautet das Urteil des russischen Verfassungsgerichts vom frühen Dienstagmorgen: Jelzin ist damit befugt, das Volk die Entscheidung über ein wesentlich parlamentarisches oder ein Präsidialsystem treffen zu lassen.

Gleichzeitig verstößt jedoch Jelzins Präsidialherrschaft, die er am Samstag abend – wirksam für die Zeit bis zum Referendum – im Fernsehen ankündigte, nach mehrheitlicher Ansicht des russischen Verfassungsgerichts gegen das Prinzip der Gewaltenteilung in der Verfassung. Ein Amtsenthebungsverfahren wurde jedoch nicht empfohlen. Der genaue Wortlaut des Dekrets über die Präsidialherrschaft lag dem Gericht nicht vor. Das Urteil wurde deshalb – nach 24stündiger, fast ununterbrochener Sitzung – auf der Grundlage der Fernsehansprache gefällt.

Formaljuristisch stellt die Entscheidung des Verfassungsgerichts eine nicht bindende Erklärung dar; es gibt Auslegungsspielraum. Die Gegner Jelzins werteten den Entscheid des Verfassungsgerichts denn auch prompt als ausreichend für ein Amtsenthebungsverfahren. Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow ging in die vollen: „Wir haben es mit einem Staatsstreich zu tun. Über die Handlungen des Präsidenten Jelzin wird nun der Volksdeputiertenkongreß entscheiden.“ Eine Einberufung dieses Kongresses kann allein der Oberste Sowjet beschließen. Dieser jedoch konnte am Dienstag nicht zusammentreten: Die Zahl der anwesenden Abgeordneten reichte nicht zur Beschlußfähigkeit. Die Sitzung soll heute stattfinden.

Kämpferisch gab sich auch Präsidentensprecher Anatoli Krassikow: Gemäß eines Beschlusses des Volksdeputiertenkongresses vom 9.12.92 sei ein Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin ohne ein vorhergehendes Referendum gar nicht möglich. Jelzin könne nur vom Volk aus dem Amt getrieben werden. Das Referendum am 25. April werde auf jeden Fall, auch ohne Zustimmung des Parlaments, durchgeführt.

Bereits vor der Entscheidung des Verfassungsgerichts hatte Jelzin seine Präsidialherrschaft weiter konsolidiert. Sein Amt veröffentlichte einen Erlaß, in dem Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin angewiesen wird, die Amtsträger auf allen Verwaltungsebenen zu überprüfen. Sollten Mitarbeiter Erlasse nicht befolgen, würden sie entlassen.

Die reformorientierten Zeitungen forderten am Dienstag den Rücktritt von Waleri Sorkin, dem Vorsitzenden des Verfassungsgerichts. Sie warfen ihm vor, im Moskauer Machtkampf seine Meinung über die Erlasse des Präsidenten öffentlich geäußert zu haben, bevor das Gericht ein Urteil gefällt habe.

Weitere Stärkung erhielt Jelzin aus dem Ausland. So betonte der amerikanische Außenminister Warren Christopher, daß Jelzin als demokratisch legitimiertes Staatsoberhaupt die Unterstützung der USA verdiene. Der amtierende EG-Ratspräsident, Dänemarks Ministerpräsident Rasmussen, kündigte an, daß er einen EG- Sondergipfel einberufen will, falls Jelzin abgesetzt werden würde. Seiten 8 und 10