Hauptstadtmusik
: Piano – pianissimo – Pause

■ Leerstellen hin, Laufmaschen her – ist Hölderlin vertonbar?

In Berlin weiß man seit über zweihundert Jahren besonders gut Bescheid über das Verhältnis von Poesie und Musik. Man denke nur an die zweite sogenannte „Berliner Liederschule“ (aus der zum Beispiel das von J.A.P. Schulz komponierte Volkslied „Der Mond ist aufgegangen“ hervorging) oder auch an die erste Berliner Liedertafel (für die Goethe speziell die Männerchor-Hymne „Hier sind wir versammelt zu löblichem Thun!“ schuf). Seit Goethe übrigens weiß man auch, daß „The German Lied“ textlich möglichst schlicht gestrickt sein sollte und genügend Leerstellen und Laufmaschen lassen muß, damit die Musik ihre poetischen Flügel entfalten kann. Umgekehrt gilt im Deutschen die Faustregel: Gute Gedichte sind schlecht oder aber gar nicht vertonbar.

Ausgiebig bewiesen wurde dies unlängst wieder einmal in Berlin dank Claudio Abbado. Er hat nämlich in seinem philharmonischen „Hölderlin-Zyklus“ einen schönen Querschnitt gelegt durch sämtliche mehr oder minder gescheiterten Hölderlin-Vertonungen seit Johannes Brahms. (Nur nebenbei gefragt: Ist es nicht merkwürdig, daß vor Brahms niemand auch nur auf die Idee kam, Hölderlin in Musik zu setzen? Vermutlich ging tatsächlich erst mit dem Erfolg von Wagners selbstgeschnitzten Stabreim-Libretti jenes uralte, von Generation zu Generation weitergereichte Grundwissen über das Verhältnis von Wort und Ton über Bord.)

Hölderlin jedenfalls, das sagt auch Abbado, sei exemplarisch eben der deutsche Dichter, „dessen Wort der Musik“ ganz außerordentlich „nahe ist“. Und Abbado weiter: „Ich verstehe gut, daß ... sein inniges Verhältnis zur Musik immer wieder Musiker zu Vertonungen von Hölderlins Dichtung inspiriert hat.“

Gewiß, das ist allzu verständlich. Vertretbar und verträglich deshalb aber noch lange nicht. Man kann Verse, die selbst Musik sind, mittels Musik meist nur verschlimmbessern. Besonders in den Fällen, wo für die perfekte Satzmelodie ein melodischer Bogen gesucht wird, der sie letztlich doch nur verdoppelmoppelt und zer(r)spiegelt; wo der Rhythmus der Worte sich niederschlägt in ausgetüftelter Polyrhythmik und davon am Ende selbst niedergeschlagen wird; wo die lebendigen Bilderkräfte der Sprache zu nichts weiter verführen als nur zu Routine abgegriffener rhetorischer Formeln und einer musikalischen Lautmalerei, wie sie seit Händel gang und gäbe ist – wenn zum Beispiel der Wind wirbelt im Orchester, wo vom Winde zwar die Rede, aber doch weniger der Wind selbst gemeint ist als vielmehr das, was er anzurichten vermag.

Ach und Weh! Überall und immer wieder wollte es mir in diesen Tagen, die ich mit Hölderlin in der Philharmonie oder im Kammermusiksaal verbringen durfte, scheinen, als seien die Gedichte ohne Musik unvergleichlich viel besser gelungen. Nichts für ungut. All die ganz gewiß klugen, kenntnisreichen und hochbegabten Komponisten von Reger bis Rihm mögen mir nachsehen und verzeihen: ich lese Hölderlin doch am liebsten immer noch selbst. Und zwar pur. Im Kopf, im Stillen, ganz für mich allein.

Doch es gibt, wie immer im Leben, Ausnahmen: bei dem Hölderlin-Liederabend, den eigentlich Dietrich Fischer-Dieskau selbst noch hatte singen wollen – und der nunmehr von seinen Meisterschülern bestritten wurde (alle miteinander bezaubernd jung und hoffnungsfroh sowie, was den absoluten, überanstrengten Gestaltungswillen angeht, sämtlich prächtige DiFiDi-Miniatur-Ausgaben), – da trug einer ein Hölderlin-Fragment von Hindemith vor, was paßte. Eine andere sang aus den Hölderlin- Fragmenten von Hanns Eisler. Stücke, in denen der Text respektlos und sinnvoll für die Komposition zusammengestrichen, entweder sowieso fragmentarisch oder aber künstlich zum Fragment gemacht und in für Musik passende Stücke zerschnitten wurde. Auch das geht.

Die alte Faustregel muß also modifiziert werden: Ein gutes Gedicht, das selbst wie Musik ist, kann nur gut in Musik gesetzt werden, wenn die Poesie sich zurückzieht aufs Fragment. Oder umgekehrt: wenn die Musik sich auf ihre Möglichkeiten von Pause, Nachhall und den raumgreifenden Klang der Stille besinnt. Die idealste Hölderlin-Vertonung (diesmal vorgetragen von den Ardittis) ist und bleibt: Luigi Nonos Streichquartett „Stille – an Diotima“.

„La musique du silence“, schrieb Claude Mauclair, sei ein utopisches Ziel, das von allen Künstlern des fin de siécle gesucht worden sei. Debussy hatte es beinahe gefunden. Vom Piano ins Pianissimo verlöschend zu Pausen verschiebt sich die Wahrnehmungsskala der Hör-Nerven in seiner Oper „Pelléas und Mélisande“. Das Pianissimo ist nicht mehr zu hören, nur noch in den Fingerspitzen zu spüren. Die Pausen sind nicht mehr Brücken von einem Klang zum anderen, sondern selbst Klänge der Stille.

Auch Peter Brook findet: das Wichtigste im Pelléas sei Debussys Umgang mit der Stille. Brook zieht den Vergleich zu japanischer Kunst: zeichne einen Baum, und zwar in seinem Verhältnis zum ihn umgebenden Nichts. Schwarz auf weiß = 2 x 88 Tasten. Reduziere die Orchesterpartitur des Pelléas auf ein Arrangement für zwei Klaviere und „listen to the music without the orchestra!“ Peter Brook lacht und freut sich. Er stellt nämlich die Fragen hier. Er spielt Schule mit der versammelten Kritikerzunft bei der Pressekonferenz in Babelsberg und ist selbst ganz der joviale Oberlehrer: Wer kann kein Englisch? Bitte Finger hoch! Wer kommt aus Berlin? Aha, alle kommen aus Berlin. Von den Brandenburgern, die das Gastspiel mit koproduzieren, wird sowieso kaum einer Gelegenheit haben, das Stück zu erleben. Peter Brook macht augenblicklich Station draußen in Babelsberg mit seiner hochgerühmten Produktion „Impressions de Pelléas“. Es ist zwar nur die achte und vorletzte Station seiner Europatournee, aber die Hauptstädter sind froh, daß sie überhaupt mit dabei sind. Die Preise sind hoch, alle Vorstellungen ausverkauft. Eleonore Büning