Warte, warte nur ein Weilchen

„Henry, Portrait of a Serial Killer“ von John McNaughton und „Mann beißt Hund“ von Rémy Belvaux, André Bonzel und Benoît Poelvoorde – zwei Massenmörder besuchen uns in der ersten Reihe  ■ Von Mariam Niroumand

Meine Kreuzberger Stammvideothek hat eine wohlsortierte Extrasektion zum Thema Serienmörder. Nebst Tagebüchern, Romanen und Hochglanz-Fanzines ist der Renner ein Video mit Interviews, in denen Insassen amerikanischer Todeszellen im peinvollsten Detail ihre Bluttaten schildern. Klarer Fall, worin der Thrill liegt für die Splatterfans, die sich diese Schauerstücke nach der dritten Folge des Kettensägenmassakers noch reinziehen: Es ist der krude real-life-touch; die holprige Kamera, das schlechte Licht, die maulfaulen Dialoge sind Insignien der Wahrheit. Im Gegensatz zum staatstragenden Reality-TV, indem das Böse stets domestiziert wird von markigen Zivilfahndern und mitleidenden Polizisten, wo den kreischenden Hausfrauen noch geholfen werden kann, bleibt bei „Henry, Portrait of a Serial Killer“ die rettende Hand des Gesetzes außen vor; das einzige Gesetz ist das der Serie, und ihren Logarithmus bestimmt allein Henry.

Henry Lee Lucas war ein Hinterwäldler aus Virginia, aufgewachsen in abgelegenen Holzhütten, angeblich mißhandelt von einer verwahrlosten Mutter, die zu seinem ersten Opfer wurde, als er 24 war. Von da an wurde er ein Drifter, und wie ein Road Movie nimmt der Film seine Spur auf der Straße auf, entlang der Leichen, die seinen Weg pflastern. Hindrapiert wie Schaufensterpuppen, seltsam künstlich liegen sie in Tümpeln, Straßengräben, Hauseingängen; mit glasigen Augen nichtssagend vor sich hinstarrend, Ornamente im grauen Alltag. Henry, der sich von Gelegenheitsjobs ernährt, lebt bei seinem Freund Otis, der Kokain dealt und an Männer heranzukommen versucht, und dessen Schwester Becky, die als ahnungslose blonde Unschuld fungiert, als Schöne in der Höhle der Bestie. Daß Henry in ihr schließlich eine Frau findet, die bereit wäre, mit ihm zu leben, ändert an seinem Blutrausch gar nichts: Das Böse in ihm (von McNaughton mit Respekt vor dessen Erhabenheit inszeniert) setzt sich mit Macht gegen jede soziale Option durch. Auch Becky endet als grausam zerstückelte Leich'.

Das bißchen Amerika, das man in diesem Film sieht, besteht aus leeren Seitengassen voller Colabüchsen, abweisenden Familienhäusern und Shopping Malls. Drinnen Unterhemden, Dosenbier, Küchentisch, Motoröl, Inzest: Henry ist der kleine Mann als Serial Killer, einer der Deklassierten, sozial Dekompensierten, der die Welt nur noch im Amoklauf unter seine Kontrolle bringen kann – gesehen aus der Perspektive wohlig gruselnden Darüberstehens. Irgendwann nimmt Henry Otis mit auf seine Touren, als Selbstbefreiungsschlag sozusagen, sie brechen in Familienhäuser ein wie seinerzeit die Jungs aus „Clockwork Orange“, mit denselben Bürgerschrecks-Attituden: Verwüstung, Vergewaltigung der Frau, Demütigung des Mannes, Stechen, Aufschlitzen, Würgen und vor allem: Filmen. Die Videokamera, die die beiden einem Ermordeten entwunden haben, ist immer dabei, die Wirkung ihrer Selbstportraits ähnlich wie beim Reality-TV: Indem Henry und Otis die Kurzvideos, die sie gerade von sich gedreht haben, auf dem Fernsehschirm sehen, auf dem kurz zuvor noch der Präsident zu ihnen sprach, gewinnt ihr Gemetzel einen Hauch von Staatsakt. Serial Killer – schon das Wort klingt wie ein Programm für eine Fernsehserie mit allem, was dazu gehört: Gleiche Besetzung, gleiches Setting, gleicher Ablauf und offenes Ende.

Während sich „Henry“ an die Splattergemeinde – wenn auch deren anspruchsvolleren Teil – wendet, will „Mann beißt Hund“ den Serial Killer mit Kunstbonus ausstatten, für gehobenere Geschmäcker. Der Mord, in edlem Schwarzweiß und Cinema-verité- Gestus gehalten, wird zum Coup de Grace, zur Performance, auch wenn das Ganze zunächst offiziell als Persiflage des Reality-TV, des gothic thrill beim Fernsehen daherkommt. Fleißig streuen die Regisseure Bonzel, Belvaux und Poelvoorde Anklänge an Cassavetes, Bertrand Blier und vor allem an „Peeping Tom“ (1959) ein – den Film, der einmal fast Karl Heinz Böhms Karriere beendet hätte. In „Peeping Tom“ filmte ein Serienkiller die Angst junger Frauen, während er sie mit seinem Kamerastativ erstach. Der Schreck über die Wirkungen des Voyeurismus, der damals auf ein saturiert-harmonisierendes Kunstverständnis traf, wirkte in den 50er Jahren ebenso produktiv wie später Kubricks Anti-Beethoven Clockwork Orange, oder Artauds Theater der Grausamkeit.

Heute aber, im Zeitalter des greinenden konservativen Kulturpessimismus und der exponentiellen Zunahme eines höchst realen städtischen Vandalismus sieht die Sache ein bißchen anders aus. „Mann beißt Hund“ zeigt Ben, einen Durchschnittsbürger aus dem Angestelltenmilieu einer französischen Vorstadt, der sein Geld und sein Pläsier erwirbt, indem er Rentnerinnen und Familien beraubt, Kinder erwürgt, Vätern die Gurgel durchschneidet, Herzkranke in die Todesstarre brüllt, Frauen den Bauch aufschlitzt und die Leichen schließlich in eine Kalkgrube entsorgt. Ein Filmteam (gespielt von den Regisseuren) begleitet ihn zunächst, deckt ihn später und nimmt schließlich Teil an seinen Aktionen. Sie trinken zusammen, schlafen zusammen, vergewaltigen und morden schließlich gemeinsam. Wie ein Conferencier, mit schneller Zunge, Ironie, Witz und Nonchalance führt der Killer das Team durch seine Serie. Zwischen den Performances kehrt er immer wieder zu seiner Familie zurück, die gespielt wird von der tatsächlichen Familie des Hauptdarstellers, und die ganz offensichtlich völlig ahnungslos ist. Ben hat auch eine Freundin, die als Kontrastprogramm Querflöte spielen darf – es dreht einem den Magen um bei dieser Billigvariante des Nebeneinander von Hochkultur und Barbarei, dieser „Dialektik der Aufklärung“ nachgespielt für Anfänger. Die Querflöte steckt dem Mädchen natürlich schließlich blutig in der Scheide, was den Count Down dieses Opus Pistorum einläutet: in einem verfallenen Haus stirbt schließlich ein Filmemacher nach dem anderen, auch Ben stirbt, niedergemetzelt von einer unsichtbaren Hand. Als einziger Akteur bleibt schließlich der Film selbst übrig, den wir unbemannt abrollen sehen.

Warum zum Teufel sollten wir dies alles sehen wollen müssen? Fritz Lang konnte mit seinen Porträts von Serial Killern, wie „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ oder „Bestie“ noch den Unterschied zwischen individueller Psychopathologie und entfesselter öffentlicher Hetzjagd zeigen; die Angst im Gesicht von Peter Lorre gilt eben dem rechtsfreien Raum, dessen filmische Durchsetzung heute Schlachtplatten wie „Henry, Portrait of a Serial Killer“ oder „Mann beißt Hund“ zelebrieren. Selbst Hitchcocks „Frenzy“ wirkt im Vergleich revolutionär: die aus subjektiver Perspektive gezeigte Perversion öffnet die Tür zur Wiederkehr des Verdrängten, zur plötzlichen schreckhaften Vergegenwärtigung im Couchpotato.

Aber dreißig Jahre später, nach Francis Bacon, Vietnam-Fotografie und Charles Manson, geht der Schuß nach hinten los. Nun erscheint der Serienkiller als Racheengel für das Mißlingen sozialer Utopien. Nun fügt sich, was eine Belehrung über Voyeurismus und den Mythos der Neutralität werden sollte, unwissentlich nahtlos ein in die Medienschelte von links und rechts, die Bilder für das verantwortlich machen wollen, was sie zeigen. Dazu braucht es gar nicht Ben's trunkenen Ausruf „Ich bin das Kino“, der wirkt da bloß wie ein pädagogisches Hinweisschild für die, die es trotz aller Brachialgewalt noch nicht gemerkt haben. Die Schuld geht sozusagen unmerklich von den Akteuren auf das Zelluloid über; es wirkt, als würden Henry und Otis für die Kamera morden, während in Mann beißt Hund gleich die Kamera selbst der Killer ist. Auf hohem ästhetischem Niveau wird hier die Selbstjustiz derjenigen hoffähig gemacht, die bislang noch im Botho Straußschen „Terror der Vorfreude“ gefangen sind.

John Mc Naughton: „Henry, Portrait of a Serial Killer“. Kamera: Charlie Lieberman. Mit Michael Rooker, Tracy Arnold, Tom Towels. USA, 1986, 80 Minuten

Rémy Belvaux, André Bonzel, Benoît Poelvoorde: „Mann beißt Hund“ („C'est arriver près de chez vous“). Belgien, 1992, 95 Minuten