: „Alle Marketing-Register ziehen“
Zur Eröffnung der Computermesse Cebit spricht Helmut Kohl von Ideen und Phantasien zur Überwindung der Rezession – Nur: Welche meint der Mann damit? ■ Aus Hannover Donata Riedel
Der große Saal der Oper ist dunkel. Unsicher blinzelnd tasten sich 1.200 Herren in gedeckten Anzügen zu ihren Klappsitzen. Ganz von Ferne blinken strahlend helle Sterne aus der Großbildleinwand hinter der Bühne. Zu Sphärenklängen aus dem Computer schafft das rot-orange-gelb-blau-grüne Cebit-Messelogo endlich Licht für das Rednerpult, dessen Stufen Hannovers Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg ohne zu stolpern erklimmt. „Welche Zukunft haben Computermessen?“ fragt er rhetorisch die Runde der kleinen und großen Prominenzen. Weil man dort als Aussteller „alle Marketing-Register ziehen kann“, trage die weltgrößte Elektronik- Messe dazu bei, konjunkturelle Schwächen zu überwinden, glaubt Schmalstieg. „Messen sind Motoren für die Belebung des Handels über Landesgrenzen und Kontinente hinweg“, bekennt offensiv auch Cebit-Eröffnungsredner Helmut Kohl am Dienstag abend.
Die 5.604 Aussteller aus 45 Ländern hoffen, daß er recht behält. Gestern morgen, bei Tageslicht während der Straßenbahnfahrt zum Messegelände, erheben sich deutlich die Worte „Rezession“, „Konjunkturflaute“ und „Absatzproblem“ aus dem Stimmengewirr. „Es muß endlich wieder aufwärts gehen“, sagt ein EDV- Dienstleitungs-Anbieter. Die letzten neun Monate seien die härtesten, weil umsatzschwächsten, in seinem Geschäftsleben gewesen.
Die Computerindustrie, vor zehn Jahren als Wachstumsbranche der Zukunft hochgepriesen, ist 1992 in ihre erste weltweite Krise abgestürzt. Niemand hätte damals gedacht, daß es bei IBM einmal Massenentlassungen geben könnte, wie sie in Zehntausendergrößen heute geplant sind, und einen Rekordverlust von fünf Milliarden Mark. Bei Siemens-Nixdorf, Philips, Olivetti oder Digital- Equipment sieht die Lage nicht viel besser aus. In Deutschland hat sich 1992 nur die Firma Hewlett Packard (HP) gut behaupten können — weil sie als einzige der „alten“ Computerfirmen schon früh erkannt hat, daß der Markt für Personal Computer plus Zubehör, genau wie einst der für Hifi- und Fernsehgeräte, an die Sättigungsgrenze stoßen würde. Im ersten Halbjahr 1992 ging allein in Deutschland die Hardware-Produktion um 26,6 Prozent auf 6,3 Milliarden Mark zurück, wie der Fachverband ZVEI meldet. Zudem unterscheiden sich PCs heute von den Bauteilen her kaum noch voneinander. Während die übrigen Computerveteranen jahrelang Großsysteme gewinnbringend vermarkteten, begann Hewlett Packard schon in den 80er Jahren, auf kleinere Einheiten zu setzen, die untereinander vielfältig vernetzbar sind. Damals bezahlte HP die neue Strategie mit deutlich geringeren Gewinnen als branchenüblich gewesen waren. Heute fährt HP die Gewinne ein — während sich IBM rechtzeitig zur Welt-Computermesse Cebit einen neuerlichen Dumping-Preiskampf mit Compaq und Dell liefert, der den PC fürs private Arbeits- oder Wohnzimmer erneut um 20 Prozent verbilligen wird.
Doch anders als die krisengeschüttelten Altindustrien Stahl und Auto sieht die Computerbranche durchaus Licht am Ende des Konjunkturtunnels. Nicht ohne Grund wird Kohl in diesem Jahr die Computermesse Cebit zum Konjunkturbarometer geadelt haben. In der Kommunikationstechnik gab es, bedingt durch neue Mobiltelefone und den Ausbau in den neuen Bundesländern 1992 noch ein Wachtum von fünf Prozent auf 20,5 Milliarden Mark. „In diesem Jahr werden in Ostdeutschland 850.000 neue Telefonanschlüsse geschaffen“, vergaß auch Kohl in seiner Opernrede nicht zu erwähnen.
In Osteuropa, den offiziellen Partnerländern der diesjährigen Cebit, herrscht ein riesiger High- Tech-Nachholbedarf. Während in den USA jeder zweite Arbeitsplatz mit einem PC ausgestattet ist, kommen in der GUS 50 Beschäftigte auf einen PC. Weil ohne Telefone und Fax-Geräte die Integration in die westliche Weltwirtschaft unmöglich ist, investieren die osteuropäischen Staaten trotz Devisenmangels zuallererst in diese Art Infrastruktur und suchen auch mit ihr Investoren. Polens Ministerpräsidentin Hanna Suchocka warb mit dem riesigen Potential polnischer Ingenieure und Wissenschaftler um mehr Engagement der deutschen Wirtschaft in Polen. Bei wirtschaftlichen Entscheidungen soll man sich „nicht nur durch die Furcht vor dem Risiko leiten lassen, sondern auch durch die Erwartung des möglichen Gewinns“.
Doch die versammelten Wirtschaftsvertreter gaben sich zurückhaltend. Tyll Necker vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mahnte angesichts der schwierigen gesamteuropäischen Dimensionen zwar: „Wir müssen heute Dinge durchsetzen, an die wir uns gestern nicht trauten.“
„Messen sind ein Schaufenster für Ideen, Visionen, Produkte und Phantasien“, sagt Kohl voll Konjunkturoptimismus. Aber welche Visionen? In 23 Hallen stehen auf der Cebit Produkte: Computer, dazu Bildschirme, Drucker, Kopierer, Telefone, Faxgeräte. Die Firma Sharp preist sich als „The Ideas Company“. Microsoft macht das Unmögliche möglich: „Software zum Anfassen“. Ein Verbund von 250 europäischen Software- Produzenten aus über 20 Ländern bietet „Lösungen für ganz Europa“. Der „rasche Zugriff auf Informationen wird in Zukunft über Erfolg oder Mißerfolg entscheiden“, raunt ein smoothe operator aus dem Irgendwo. Antworten, so scheint es, gibt nur das Personal am Epson-Stand — auf die Frage: „Welches Interface paßt zu welchem Epson-Drucker?“
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