Jelzin trickst sie alle aus

■ Aber Chasbulatow gibt nicht auf und erklärt Jelzins Machtbefugnisse für suspendiert

Moskau (taz) – Vier Tage hielt Präsident Jelzin den Text seines Dekretes zurück. Seit gestern liegt das Dokument nun schwarz auf weiß vor. Doch diese Version sieht im Unterschied zur Fernsehansprache Jelzins, bei der dieser am Samstag abend die Verhängung einer Präsidialherrschaft angekündigt hatte, eine solche Form der Verwaltung nicht mehr vor. Dennoch wollte Parlamentssprecher Ruslan Chasbulatovw auch am Donnerstag nicht klein beigeben. Bei der Sitzung des Obersten Sowjet erklärte er, daß die Machtbefugnisse des Präsidenten mit sofortiger Wirkung suspendiert würden. Diese Aussetzung sei, so Chasbulatow, auf der Grundlage eines Beschlusses des Volksdeputiertenkongresses möglich.

Am Mittwoch hatte das Verfassungsgericht Jelzin für ein Dekret verurteilt, das dieser nie erlassen hat. Genauso wie Jelzin am Sonnabend mit der Fernsehansprache seine Gegner Chasbulatow und Vizepräsident Ruzkoi aus der Reserve lockte, ist ihm auch das Verfassungsgericht in die Falle gegangen, indem es ausschließlich aufgrund dieser Rede sein Urteil fällte. Die Juristen des Präsidentenapparates nutzten die Vorarbeit ihrer Kollegen vom höchsten Gericht, um Jelzins Dekret an deren Urteil vorbeizuformulieren. Statt von Präsidialherrschaft spricht das Dokument jetzt von „dringenden Maßnahmen, die darauf abzielen, die Lage zu stabilisieren und Bedingungen für die wirtschaftliche Reform zu schaffen“. Anordnungen und Dekrete der Exekutive können dem Erlaß nach nicht ohne Bestätigung des Verfassungsgerichts außer Kraft gesetzt werden. Ein Schachzug, der die Front der Jelzin-Gegner spaltet. Jelzins Referendum vom 25. April steht damit (im Moment) nichts mehr im Wege. Dem Wunsch einer Reihe Abgeordneter, ein Amtsenthebungsverfahren zu legitimieren, kam der Sprecher des Verfassungsgerichtes nicht entgegen.

Nach Veröffentlichung des Textes trafen sich Parlamentsvorsitzender Chasbulatow und Verfassungsrichter Sorkin mit dem Präsidenten und Ministerpräsident Tschernomyrdin. Chasbulatows Pressesprecher hielt in einer sibyllinischen Wendung eine offene Konfrontation schon während der Unterredung für unwahrscheinlich. Das Treffen endete dennoch ohne Resultate. Auf der folgenden Sitzung des Obersten Sowjet forderte Chasbulatow dann die sofortige Streichung aller Befugnisse des Präsidenten.

Am Vorabend auf einem Treffen der Fraktionschefs des Kongresses war jedoch deutlich geworden, daß das gegnerische Lager nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit der Volksdeputierten für eine Amtsenthebung zusammenbekäme. Ein Fraktionschef bedauerte: „Leider haben wir diesen Weg eingeschlagen, jetzt können wir nicht zurück.“

Vorübergehend schien die Einberufung des Volksdeputiertenkongresses für Freitag unsicher. Die laufende Registrierung der Kongreßabgeordneten wurde vorläufig gestoppt. Ohnehin konnte man sich auf eine Tagesordnung nicht einigen. In seiner gestrigen Abendsitzung rief das Arbeitsparlament den Kongreß schließlich doch zusammen. Chasbulatows letzte Reaktion deutet darauf hin, daß er am Freitag seine letzte Karte spielen wird.

In den Städten Rußlands formieren sich indessen Anhänger und Gegner Jelzins. Die örtlichen Parteien organisieren Versammlungen und schicken Stellungnahmen nach Moskau. Die Kosakenverbände sicherten Jelzin Unterstützung zu und schlugen die Bildung einer kosakischen Präsidentengarde vor. In St. Petersburg demonstrierten am Dienstag abend 20.000 Menschen für Jelzin. khd