„Maximum des politischen Zerfalls“

Pascal Perrineau, Leiter des „Zentrums für Studien über das politische Leben in Frankreich“, über die „negative Politisierung“ der französischen WählerInnen. Ein Interview  ■ Von Bettina Kaps

taz: Die französischen WählerInnen haben die Sozialisten am Sonntag schwer bestraft, die konservative „Union für Frankreich“ hat davon profitiert. Doch setzen die Franzosen wirkliche Hoffnung in die Politik der Rechten?

Pascal Perrineau: Ein Teil der enttäuschten Linkswähler hat jetzt rechts gewählt. Doch der Einsturz der Sozialisten hat vor allem zur Zersplitterung der Parteienlandschaft geführt. Zahlreiche Randgruppen haben hinzugewonnen: die Kommunisten, die zahlreichen ökologischen Kandidaten, auch die Rechtsextremen. Etwa 40 Prozent der Wähler haben für solche Gruppierungen gestimmt, die keine Regierungsparteien sind.

Welche Hoffnungen können die WählerInnen mit solchen Entscheidungen verbinden?

Sie haben keine Hoffnungen, sondern benutzen die kleinen Parteien, um ihren Protest an den Regierungsparteien und an der Entwicklung der politischen Klasse auszudrücken. Dieses Phänomen kann man als „negative Politisierung“ bezeichen: Die Leute gehen zwar zur Wahl, doch in der Absicht, mit dem politischen System abzurechnen und ihren Überdruß auszudrücken.

Einzig das ökologische Bündnis hat neue Ideen präsentiert. Warum haben die WählerInnen – wenn sie die bisherige Politik satt haben – den Öko-Parteien nicht mehr Stimmen gegeben?

Weil sie einen schlechten Wahlkampf geführt haben. Sie erschienen als eine politische Partei wie alle anderen auch, mit einem Krieg der Chefs, mit ihren Zwistigkeiten, mit esoterischen Themen, mit einer Sprache, die ihre politische Frische verloren hat. Sie haben fast gar nicht mehr von der Umwelt gesprochen und dadurch ihre Identität eingebüßt. Sie haben sich banalisiert. Der Eindruck entstand, als gebe es keinen wirklichen Unterschied zwischen dem „Génération Ecologie“-Chef Lalonde und Gaullisten-Chef Chirac oder Sozialisten-Chef Fabius.

Betrachten Sie das gute Ergebnis der rechtsextremen „Front National“ ebenfalls als Ausdruck von Protest, oder spiegelt sich darin inzwischen eine stabile Anhängerschaft wider?

Die Wahl der „Front National“ signalisiert in erster Linie Protest gegen die übrigen Parteien. Dabei erzielt die FN ihre Erfolge immer mehr in volkstümlichen Gruppen, unter Arbeitslosen, Arbeitern, in problematischen Großstadtzonen, kurz: ihre Wähler beschränken sich nicht länger auf die Bourgeoisie. Das bedeutet, daß sich der Protest verhärtet. Heute hat die FN ihre Wählerschaft relativ gut im Griff, und zwar immer mit denselben zwei Ideen: die Verunglimpfung der Einwanderung und die mangelnde Sicherheit. In Frankreich kristallisiert sich also eine ausländerfeindliche, extrem pessimistische, verängstigte Wählergruppe heraus, die sich durch die Rhetorik der FN in einer – natürlich völlig mythischen – nationalen Gemeinschaft integriert fühlt.

Wird es in absehbarer Zeit eine ganz neue politische Landschaft in Frankreich geben?

Ich glaube, daß wir das Maximum des politischen Zerfalls erreicht haben. Der Weg für eine linke Erneuerung ist ja bereits von dem Sozialisten Michel Rocard angekündigt worden. Es ist jedoch ein Handicap für dieses Projekt, daß die Linke jetzt derart geschwächt ist. Ihre Erneuerung kann sich dadurch noch sehr lange hinzögern.

Ist eine Voraussetzung für diese Erneuerung, daß die Linke und die Rechte ihre ideologischen Unterschiede wieder deutlich machen?

Ja, ein Minimum an ideologischer Bipolarität ist Voraussetzung der Demokratie. Die Linke und die Rechte müssen wieder Projekte anbieten, die sich voneinander unterscheiden. Es muß wieder eine Differenz geschaffen werden, damit die Franzosen Orientierungspunkte finden. Für die Rechte ist das auch nicht so einfach: Ihr enormer parlamentarischer Erfolg kaschiert zahlreiche ungelöste Probleme, etwa den Krieg ihrer Chefs, der bald wieder aufflammen wird, die Opposition zwischen Pro- und Anti-Europäern, das Problem der Rückeroberung der volkstümlichen Wählerschichten. Schließlich hat die Rechte nur 44 Prozent der Stimmen erobert. Um den nächsten Präsidenten zu stellen, braucht sie über 50 Prozent.

Aber zieht sich die eigentliche Trennlinie in Frankreich heute nicht durch Pro- und Anti-Europäer? Und somit glatt durch die konservativen Parteien selbst?

Ja. Aber das Mehrheitswahlrecht verhindert, daß diese Linie aufbricht. Wir konnten jetzt nur zwischen links und rechts wählen, obwohl die Franzosen beim Maastricht-Referendum gezeigt haben, daß rechts und links in Sachen Europa überhaupt keine Bedeutung hat. Doch die wirkliche Erneuerung — falls es dazu kommt — kann in Frankreich nur bei Präsidentschaftswahlen stattfinden.