Monument des Größenwahns

In Großbritannien beraten Regierung und Atomindustrie über eine gigantische Thermaloxid-Wiederaufbereitungsanlage in Sellafield  ■ Aus London Ralf Sotscheck

Großbritannien ist um ein Monument des Größenwahns reicher: die gigantische Thermaloxid-Wiederaufbereitungsanlage (Thorp) auf dem Gelände der Plutoniumschleuder Sellafield im Nordwesten Englands. Das Monstrum, doppelt so groß wie das Wembley- Stadion und höher als die Londoner St.-Paul's-Kathedrale, ist betriebsbereit, doch die an dem Projekt Beteiligten werden inzwischen von nagenden Zweifeln geplagt. Kürzlich trafen sich eine Reihe von britischen Wissenschaftlern mit Vertretern der Atomindustrie an einem geheimen Ort, um drei Tage lang Vorschläge über die Zukunft der Anlage zu erarbeiten, die dann der Regierung vorgelegt werden sollen.

Das Kabinett hat inzwischen seine eigene, ebenfalls geheime Untersuchung angeordnet.

Bis auf das Industrieministerium sind sich offenbar alle einig, daß man Thorp niemals hätte bauen dürfen. Diese Einsicht kommt freilich zu spät und beruht auch keineswegs auf plötzlich erwachtem Umweltbewußtsein. Es sind handfeste wirtschaftliche Interessen, die hinter dem Meinungsumschwung stehen. Die Kosten für die Anlage, die ursprünglich 300 Millionen Pfund betragen sollten, sind auf 1,85 Milliarden Pfund (knapp 4,5 Milliarden Mark) geklettert. Das ist jedoch nur ein Bruchteil dessen, was die Anlage an Verlust einfahren würde, sollte sie tatsächlich in Betrieb gehen. Die von Anfang an zu optimistisch kalkulierte Auftragslage hat sich nämlich drastisch verschlechtert.

Die Idee für die Thorp-Anlage stammt von dem linken Labour- Abgeordneten und damaligen Energieminister Tony Benn. Eine öffentliche Untersuchung unter Richter Parker ebnete dem Bau vor 15 Jahren den Weg. Damals sagte die Atomindustrie voraus, daß die Atomkraft weltweit auf dem Vormarsch sei und sich der Uranpreis aufgrund der Knappheit verdoppeln werde. Die Wiederaufbereitung — die Trennung des verbrauchten Brennmaterials in Atommüll, Uran und Plutonium für Atombomben — würde Großbritannien jedes Jahr Millionen an Devisen einbringen, hieß es.

Tatsächlich wird zur Jahrhundertwende jedoch nur ein Zehntel der prophezeiten Menge von Atomstrom produziert werden. Der Uranpreis ist bereits heute auf ein Sechstel des damaligen Niveaus gefallen, weil man inzwischen auf neue Vorkommen gestoßen ist. Und Plutonium ist längst zum Alptraum geworden. Selbst William Dircks, stellvertretender Direktor der Internationalen Atomenergie-Agentur, gesteht ein, daß wiederaufbereitetes Plutonium „weltweit ein großes politisches und sicherheitstechnisches Problem“ sei.

Deartige Bedenken waren damals auch Richter Parker gekommen. Er wischte sie jedoch vom Tisch: Falls sich der Bau als überflüssig erweisen sollte, hätte man „lediglich einige Aufwendungen verschwendet“. Das Parlament folgte seiner Empfehlung, Thorp zu bauen — mit einer Mehrheit von drei zu eins. Der Einspruch der Umweltorganisation Friends of the Earth wurde in allen 17 Punkten zurückgewiesen.

Oxid-Brennstoff wurde in Sellafield bereits bis 1973 wiederaufbereitet. Als dann jedoch bei einem der zahlreichen Unfälle in der Anlage 35 Arbeiter verstrahlt wurden, stellte man das Verfahren ein und bereitet seitdem nur noch den Brennstoff der veralteten Magnox- Reaktoren auf. Thorp sollte die vermeintliche Marktlücke füllen. Die Sellafield-Betreiberfirma British Nuclear Fuels (BNFL) behauptet, die Anlage werde in den ersten zehn Jahren nach Inbetriebnahme 500 Millionen Pfund Gewinn machen, da man bereits seit den siebziger Jahren profitträchtige Verträge unter Dach und Fach habe. Doch nach Ablauf der Verträge müßte Thorp mangels Nachfrage ohnehin wieder schließen, glauben Experten. Und ob die Verträge überhaupt erfüllt werden, ist keineswegs sicher.

Japan und Deutschland, die beiden wichtigsten ausländischen Auftraggeber, überlegen bereits laut, ob es nicht billiger wäre, die Konventionalstrafe zu bezahlen. Scottish Nuclear, das schottische Atomstrom-Unternehmen, hat festgestellt, daß die Firma 45 Millionen Pfund im Jahr sparen könnte, wenn die verbrauchten Brennstäbe nicht wiederaufbereitet würden. Deshalb hat das Unternehmen mit dem Bau einer eigenen Atommülldeponie begonnen. Der staatliche „Beratungsausschuß für die Behandlung radioaktiven Mülls“ hat bereits vor zwei Jahren festgestellt: „Es gibt keinen überzeugenden Grund, Oxidbrennstoff jetzt, später oder überhaupt wiederaufzubereiten.“ Selbst ein BNFL-Direktor, der ungenannt bleiben wollte, sagte vor kurzem: „Wiederaufbereitung ist nicht notwendig.“ Offiziell behauptet BNFL dagegen, daß ausländische Kunden hohe Schadensersatzforderungen stellen könnten, wenn Thorp nicht in Betrieb gehe. In Wahrheit steht in den Verträgen jedoch eindeutig, daß die Kunden nicht nur keine Forderungen stellen können, sondern ihren bereits gelieferten Müll wieder zurücknehmen müssen.

Die irische Regierung hat im vergangenen Monat scharfen Protest gegen die geplante Inbetriebnahme der Anlage eingelegt. Nach ihren Berechnungen würde sich die radioaktive Verseuchung der Umwelt durch die Analge verzehnfachen, wovon auch die Grüne Insel am anderen Ufer der Irischen See, dem ohnehin radioaktiv verseuchtesten Meer der Welt, stark betroffen wäre. Vor einem Londoner Gericht werden zur Zeit zwei Testfälle von Familien aus der Umgebung der Plutoniumschleuder verhandelt, deren Kinder an Leukämie gestorben sind. Sollten sie Erfolg haben, würde das einen Rattenschwanz von Klagen gegen BNFL nach sich ziehen. Und dem Unternehmen steht weitere Unbill ins Haus: In der vergangenen Woche wurde ein Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, daß die Zahl der Kinder mit Augenkrebs in der Nähe Sellafields zwanzigmal höher ist, als im Rest des Landes.

Ob die Tory-Regierung jedoch das Thorp-Projekt abbläst, ist trotz aller ökonomischer und ökologischer Argumente ungewiß. Eine Entscheidung wird nicht vor dem Sommer fallen. Hohe Regierungsbeamte haben angedeutet, daß eine knappe Mehrheit für die Inbetriebnahme ist, um das Gesicht zu wahren. Vielleicht können die Minister die Schuld für den peinlichen und vor allem kostspieligen Fehler ja der linken Labour-Eminenz Tony Benn zuschieben. Der Observer verglich Benn vor kurzem mit dem König von Siam, der den Höflingen, die er nicht leiden konnte, einen weißen Elefanten schenkte. Die Tiere fraßen so viel, daß sie die Beschenkten in den Ruin trieben.