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Bremens Energiepioniere...oder: wie Bremen zur Öko-Musterstadt wurde

■ Wie das ökologisch Notwendige ökonomisch gestaltet werden kann / Alt-Umweltsenator Fraech und Stadtwerke-Chef Willchon. Ein Bericht aus dem Jahr 2013 vom Energiespezialisten Helmut Spitzley, Hochschullehrer in Bremen

10. Januar 2013

Seit einer Woche halte ich mich nun in Bremen auf. Die klare, saubere Luft macht das Atmen zu einer wahren Freude.

Ich will mit Zeitzeugen sprechen, um die Konflikte zu verstehen, die zu Beginn der 90er Jahre um die bremische Energiepolitik geführt wurden. Für uns im 21. Jahrhundert ist vieles längst selbstverständlich geworden: Strategisches Energiesparen, Nah- und Fernwärme, Nutzung dauerhafter Energiequellen (Sonne, Wasser, Wind ...).

16. Januar 2013

Komme gerade zurück von einer Reise in eine der schönsten Gegenden Deutschlands. In einem kleinen Ort in der Pfalz hat Ulf Fraesch, der frühere Umweltsenator und zeitweilige Bremer Bürgermeister, seinen Ruhesitz.

Fraesch war offenbar eine der entscheidenden Personen für die Energiewende in Bremen. Er hat mir die Geschichte des erfolgreichen „Bremer Energiepakts“ erzählt. Zum Abschied übergab er mir seine persönlichen Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Eine wahre Fundgrube für die Rekonstruktion der bremischen Energiegeschichte.

18. Januar 2013

Heute zu spät aufgestanden. Gestern hatte mich J. G. Willchon, der frühere Vorstandssprecher der Stadtwerke Bremen AG, zu einem ausführlichen Kamingespräch empfangen.

Altersweise berichtet er mit selbstkritischem Humor über die „großen alten Zeiten“. Auf Verlauf und Ergebnisse der 1993 eingeleiteten neuen bremischen Energiepolitik ist Willchon jedenfalls heute ebenso stolz wie Fraesch.

22. Januar 2013

Nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl im Frühjahr 1986 scheint ein allmählicher Umdenkprozeß in der Energiepolitik begonnen zu haben. Damals beauftragte der Bremer Senat eine Expertengruppe nach Wegen zu suchen, wie die Freie Hansestadt Bremen sich von Atomstrom unabhängig machen könnte. Auch die Zielsetzung, den CO2-Ausstoß um 4o% zu verringern und damit einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, stammt offenbar bereits aus den 8oer Jahren des letzten Jahrhunderts.

23. Januar 2013

Im Sommer 1991 verabschiedete die Bremische Bürgerschaft ein Landesenergiegesetz, das einige (mehr oder weniger verbindlich formulierte) Ansätze für eine ökologische Energiepolitik enthielt: z. B. Bestimmungen zum Energiesparen, zur Förderung rationeller Energieerzeugung und zur Nutzung dauerhafter Energiequellen. Die Entwicklung der traditionellen Energieversorgungsunternehmen zu ökologischen Energiedienstleistungsunternehmen wurde ebenfalls als Aufgabe genannt.

24. Januar 2013

Veränderungen in der bremischen Politik, die bis dahin von einer einzigen Partei beherrscht worden war, kamen offenbar erst mit der Bürgerschaftswahl im Herbst 1991.

Die bis dahin allein regierende SPD wurde abgelöst durch eine Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen. Fraesch (DIE GRÜNEN) wurde Senator für Umwelt, Energie und Stadtentwicklung. Bürgerinitiativen äußerten die Hoffnung, daß nun endlich Bewegung in die bremische Energiepolitik kommen würde. Der neue Senator hatte eine schwere, auf den ersten Blick kaum lösbare Aufgabe übernommen. Stützen konnte er sich zunächst nur auf einige mehr oder weniger konkret gefaßte Absichtserklärungen in den Koalitionsvereinbarungen.

27. Januar 2013

Der neue Umweltsenator war über die Defizite informiert. In seinem Notizblock finde ich folgenden Eintrag:

„Bewegung in der Energiepolitik kommt nicht von allein. Wo anfangen? Meine Arbeitskapazität ist ausgefüllt mit anderen Politikfeldern: Flächenpolitik, Wohnungsbau, Verkehr, Müll... Hinzu kommt das leidige, kräftezehrende Koalitionsmanagement.

Es gibt wichtige konzeptionelle Vorarbeiten und eine im Grundsatz übereinstimmende Programmatik bei SPD und Grünen. Was bislang fehlt, sind klare, für die Öffentlichkeit verständliche Zielvorgaben und eine überzeugende, nachvollziehbare Umsetzung. Trotz aller anderen Aufgaben: Ich muß persönlich 'ran. Energiepolitik erhält ab sofort höchste politische Priorität.“

Fraesch wußte, daß eine wirkungsvolle ökologische Energiepolitik nur gemeinsam mit den mächtigen Stadtwerken möglich war. In den Koalitionsverhandlungen hatte der Umweltsenator staatliche Fördermittel von einigen Millionen DM erkämpft, die er für energiepolitisch bedeutsame Einzelprojekte einsetzen wollte. In Teilbereichen konnte das sicher nützlich sein. Viel gewichtiger waren jedoch die ca. 250 Mio DM an jährlichen Investitionsmitteln der Stadtwerke Bremen AG und die Fähigkeiten ihrer 3000 Beschäftigten. Diese mußten ökologisch und ökonomisch wirkungsvoller eingesetzt werden.

1. Februar 2013

In den Notizen des Senators fand ich heute die folgende, wahrscheinlich aus dem Frühjahr 1993 stammende, Eintragung:

„Morgen früh Strategiebesprechung mit dem Leiter des Bremer Energieinstituts und den Mitarbeitern der Energieleitstelle. Abends das lang vorbereitete Vier-Augen-Gespräch mit dem Stadtwerkevorstand. Danach Vorlage für den Koalitionsausschuß. Das wird eine harte Woche.“

Vermutlich ist in diesem historischen Vier-Augen-Gespräch die Grundlage geschaffen worden für das gegenseitige Verständnis der beiden Herren und für das anschließende erfolgreiche energiepolitische Zusammenwirken von Senat und Stadtwerken in den folgenden Jahren. Der Stadtwerkevorstand a. D. hat mir ausführlich von dieser Begegnung berichtet. Gut, daß ich die Aussagen auf Band genommen habe. Hier J. G. Willchon im Originalton:

Der Stadtwerke-Geier 2012. Wie der Phönix aus der AscheFoto: Steinberg

„Herr Fraesch war mir seit langem als Mann mit Überzeugungen, Sachverstand und politischer Durchsetzungskraft bekannt. Er war zu mir gekommen, weil er sich der engen Handlungsgrenzen eines Umweltsenators bewußt war und auch schon Niederlagen hatte einstecken müssen. Bei mir wollte er für seine energiepolitischen Ziele werben.

Wer nicht völlig vernagelt war, wußte auch damals ausreichend Bescheid über die gravierenden Umweltschäden der Verbrennung von fossilen Energieträgern – in unserem Fall der Kohle. Meine Haltung konnte unter den herrschenden politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zunächst aber nur sein: Die Stadtwerke Bremen sind eine Aktiengesellschaft, die vor allem anderen am betriebswirtschaftlichen Ergebnis gemessen wird. Weniger Elektrizitätsverbrauch bedeutet weniger Absatz, mit anderen Worten: betriebswirtschaftliche Verluste. Beim Fernwärmeausbau können wir nur sehr vorsichtig und langsam vorgehen, da wir gegen extrem niedrige Ölpreise konkurrieren müssen. Die Nutzung dauerhafter Energiequellen (Wasser, Wind und Sonne) ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, auf absehbare Zeit unrentabel. Die Stadtwerke unterstützten symbolhaft einige Modellvorhaben. Doch mehr, so der Kern meiner Aussage, könnten die Stadtwerke Bremen AG im Rahmen ihrer vom

Eigner, das heißt der Stadtgemeinde Bremen, vorgegebenen Aufgabenstellung nicht tun.

Der Senator schlug vor, Senat und Stadtwerke sollten gemeinsam nach Wegen suchen, Ökologie und Ökonomie zu verbinden und prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des „Bremer Energiepakts“.

Bei mittel- und langfristig steigenden Ölpreisen werde Nah- und Fernwärmeversorgung lukrative Geschäftsfelder eröffnen. Jetzt müsse entsprechend investiert werden. Eine offensive Geschäftspolitik sei auch wünschenswert, um Arbeitsplätze bei den Stadtwerken und in anderen Teilen der bremischen Wirtschaft zu sichern. Bei einer klugen Auslegung werde ökologische Energiepolitik in der bremischen Bevölkerung und von der Politik nachhaltig unterstützt werden.

In diesem Zusammenhang erinnerte der Senator an einige ökologisch vorbildliche Projekte, die von einigen Personen in den Stadtwerken und vom früher zuständigen Wirtschaftssenator zunächst abgelehnt worden waren: Das Kraftwerk Hastedt Block 15, für das wir beide – damals in sehr unterschiedlichen Positionen – bereits 1986 gemeinsam gestritten hätten, sei doch auch ökonomisch ein Erfolg geworden. Oder das Beispiel Windkraftnutzung: Dank verbesserter staatlicher Rahmenbedingungen sei der Windpark in Wremen für die Stadtwerke zu einer wahren Goldgrube ge

worden.

In beiden Fällen hatte der Senator zweifellos recht.

Nach der ersten Flasche Wein war klar, daß unterschiedliche Geschäftsphilosophien im Raum standen. Während ich damals noch meinte, die traditionelle Linie unseres Hauses vertreten zu müssen, unterstützte der junge, umweltpolitisch motivierte Senator eine andere, mutigere, aber ökonomisch durchaus vertretbare Geschäftspolitik:

Der Senator erklärte sich bereit, sein ganzes politisches Gewicht im Koalitionsausschuß, im Senat, im Aufsichtsrat und notfalls auch den Bestand der Koalition in die Waagschale zu werfen, um die erforderliche politische Rückendeckung für einen „ökologisch-ökonomischen New Deal“ in der bremischen Energiepolitik herbeizuführen.

Dies waren für mich völlig neue Töne. Persönlich hatte ich von Anfang an Sympathien für die Argumente des jungen Senators. Bis dahin hatte ich mich jedoch gefangen gesehen in einem allzu engen unternehmerischen Handlungskorsett. Denn der bis Ende 1991 aufsichtsführende Wirtschaftssenator hatte die Stadtwerke lediglich als Melkkuh (Gewinnabführung, Konzessionsabgabe ...) betrachtet. Dies hatte auch bei den kreativen Mitarbeitern des Unternehmens wie eine Schere im Kopf gewirkt. Der Verzicht auf den Ausbau der Fernwärme in den 60er, 70er und 80er Jahren war nur eines der vielen Beispiele für das Zusammenspiel ängstlicher Aufsichtsbeamter und wenig unternehmerisch denkender Führungspersonen, die es natürlich auch in unserem Haus gegeben hatte. Das sollte nun endlich anders werden.“

So weit das Tonbandprotokoll meines Gespräches mit dem Stadtwerkedirektor a. D..

Hierzu der Senator in seinem Notizbuch:

„Die technischen Möglichkeiten einer umweltverträglichen Energieversorgung in Bremen liegen klar auf der Hand.

Senat und Stadtwerke sollten ein Risikobündnis (etwa bezogen auf die Ölpreisentwicklung) eingehen und auch die mittel- und langfristig zu erwartenden ökonomischen Erfolge teilen.

Ich muß mit dem Präsidenten des Senats reden und zusammen mit ihm den Koalitionsausschuß überzeugen. Wagen und winnen ...“

Und etwas später:

„Nach gründlicher Prüfung hat sich der Präsident des Senats (auch auf Drängen seiner Partei!) endlich zur Unterstützung einer neuen Energiepolitik entschlossen. Auch die FDP wittert den ökonomischen und politischen Erfolg. Sie will ihre Chance nicht verspielen und zieht mit. Energiepolitik wird nun zum gemeinsamen Projekt der Ampelregierung. Endlich zeigt die Koalition einmal den Mut, den sie auch auf anderen Feldern so dringend braucht ...“.

4. Februar 2013

In den Notizen des Senators finde ich folgenden Eintrag:

„Unsere Energiesparziele sind ehrgeizig, aber erreichbar. Je schneller wir vorankommen, desto schneller verringern wir auch unsere Abhängigkeiten von Energieimporten und natürlich auch von externen Preissteigerungen. Die Rohölmärkte sind in Bewegung gekommen. Die jetzigen Preissprünge sind nur der Anfang eines langfristigen Aufwärtstrends der Energie- und Rohstoffpreise. Die Kosten für Gas und Kohle werden folgen.

Alle verfügbaren Mittel werden ab sofort für Einsparprogramme und den schnellstmöglichen Aufbau des Nah-/Fernwärmenetzes eingesetzt. Endlich kommt sichtbare Bewegung in die Energiepolitik. Die Menschen merken, daß wir handeln und auf dem richtigen Weg sind.“

6. Februar 2013

Der 1. Mai 1994 hat eine besondere Bedeutung in der Geschichte der neuen Energiepolitik Bremens.

Erstmals als Tag der „Arbeit und Umwelt“ gefeiert, bot er den Stadtwerken eine willkommene Gelegenheit, ihren Haushaltskunden ein neues, umweltorientiertes Serviceangebot zu unterbreiten. Stadtwerke und Umweltsenator starteten an diesem Tag gemeinsam eine öffentliche Kampagne: „Schützen Sie die Umwelt – Sparen Sie Energie – Wir helfen Ihnen!“

Jedem bremischen Haushalt wurde ein freiwilliger kostenloser „Haushalts-Check“ angeboten. Kundenberater der Stadtwerke kamen nach vorheriger Terminabsprache in die Häuser und Wohnungen der Kunden (“Vor-Ort-Beratung“), um die energietechnische Ausstattung in folgenden vier Bereichen (“Die Großen Vier“) fachkundig zu analysieren und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten: Wärmedämmung der Wände, Fenster und Türen; Heizanlagen; Warmwasserbereitung; Elektrogeräte, einschließlich Beleuchtung.

Es gab eine Menge von Investitionen, bei denen mit einem Aufwand zwischen 0 und 10 Pf pro Kilowattstunde der Bezug von Strom und damit Kosten von über 20 Pf pro Kilowattstunde vermieden werden konnten. Ein glänzendes Geschäft also für die Bremischen Bürgerinnen und Bürger.

Das Serviceangebot ging aber noch weiter. Wenn die Kunden es wünschten, unterbreiteten die Stadtwerke auch Finanzierungspläne und boten gemeinsam mit Kreditinstituten eine unbürokratisch abzuwickelnde zinsgünstige Vorfinanzierung an. Die Grundidee war sehr einfach: Da durch die energietechnische Sanierung die laufenden Energiekosten der beteiligten Haushalte merklich sanken, konnten sie die vorgeschossenen Investitionskosten einfach im Rahmen ihrer üblichen Strom- oder Gasrechnungen abtragen. Auch finanzschwachen Personen waren daher in der Lage, ihre Haushalte energietechnisch erheblich zu verbessern.

Diese Form der energietechnischen „Vor-Ort-Beratung“ wurde nicht nur von den politischen Parteien, den Umweltverbänden und den Gewerkschaften, sondern u.a. auch von der Handwerkskammer unterstützt. Der einsetzende Auftragsboom wirkte bei vielen Betrieben wie ein kleines Beschäftigungsprogramm. Der Absatz von energietechnisch optimierten Geräten, von Brennwertkesseln bis zu Energiesparlampen, stieg so erheblich an, daß auch der einschlägige Handel durch entsprechende Umsatzsteigerungen profitierte und daher für eine Intensivierung der „Vor-Ort-Beratung“ eintrat.

Der Stadtwerkevorstand a. D. erinnert sich mit großem Vergnügen an den Erfolg dieses Programms:

„Wir machten Ernst mit unserem Anspruch, ein modernes Energiedienstleistungs-unternehmen zu sein. Wir kümmerten uns nicht nur wie eh und je um Strom- oder Gaslieferungen, sondern jetzt auch um die Nutzungstechniken unserer Kunden.

Da diese Strategie nicht nur der Umwelt zugute kam, sondern auch für den durchschnittlichen Kundenhaushalt wirtschaftlich vorteilhaft war, hatten wir mit der Aufsichtsbehörde abgesprochen, daß die Kosten der Vor-Ort-Beratung, d.h. unseres „Einspar-Kraftwerks“ bei der Festsetzung der Haushaltstarife berücksichtigt wurden. Für uns war es also ein ganz herkömmliches Geschäft. Der Preis für die noch zu liefernden Kilowattstunden wurde dadurch um kaum spürbare 0,4 Pf /KWh angehoben, ein sicher nicht zu hoher Ausgleich für unseren ansonsten kostenlosen Beratungsservice.“

Damals wegen Veraltung abgerissen, aber schon fast ein Symbol der neuen Zeit: Das Weserkraftwerk

9. Februar 2013

Aus der Presse und einer Sendung des lokalen Fernsehens „buten & binnen“ lässt sich der Erfolg dieses Programms gut rekonstruieren.

Der mit der „Vor-Ort-Beratung“ verbundene enge Kontakt zwischen engagierten Mitarbeitern der Stadtwerke und ihren Kunden bewirkte eine deutliche Verbesserung des öffentlichen Ansehens des Unternehmens. Hatten noch Anfang der 90er Jahre (damals geheimgehaltenen Umfrageergebnissen zufolge) die Mehrzahl der Bremerinnen und Bremer die Stadtwerke als „zu groß, zu teuer, zu unflexibel, zu bürokratisch“ beurteilt, so veränderte sich diese Einschätzung in den folgenden Jahren zum Positiven: „hilfsbereit, nützlich, sparsam und umweltbewußt“ waren nun die am häufigsten in Zusammenhang mit den Stadtwerken genannten Kundenurteile.

11. Februar 2013

Nach mehrjähriger interner Vorplanung legten die Stadtwerke endlich im Jahre 1993 einen Ausbauplan für die Nah-/ Fernwärmeversorgung vor.

„Wenig engagiert“ und „zu zögerlich“ lautete das Urteil von unabhängigen Energieexperten und Öffentlichkeit. Auf Drängen von Grünen und SPD ließ der Umweltsenator das unabhängige Bremer Energieinstitut ein alternatives Fernwärmekonzept ausarbeiten. Es zeigte sich, daß die Techniker der Stadtwerke alte Fehler wiederholt und übertrieben fernwärmefeindlich gerechnet hatten. Die Entwicklung der Ölpreise war zu niedrig, die Herstellungskosten waren im Vergleich zu anderen Stadtwerken zu hoch angesetzt, der Abschreibemodus war ungünstig gewählt und die Anschlußwerte waren bewußt niedrig angesetzt worden. Unter realistischen ökonomischen Prämissen kamen unabhängige Gutachter zu dem Ergebnis, daß der Absatz der umweltfreundlichen Fernwärme mehr als doppelt so hoch sein könnte wie die Stadtwerke in ihrer Presseerklärung vom Dezember 1992 zunächst angegeben hatten. Der Weser Kurier titelte: „Soll die Fernwärme kaputtgerechnet werden?“ und die taz schrieb: „Stadtwerke verschlafen unsere Zukunft – muß Willchon jetzt gehen?“

Als die Öffentlichkeit Wind davon bekam, forderten die Gewerkschaften, unterstützt von den Umweltschutzverbänden, eine Neubewertung und den sofortigen Einstieg in den raschen und massiven Fernwärmeausbau. Der Präsident des Senats erklärte in buten & binnen: „Wenn Bremen unabhängig bleiben will, dürfen wir eine solche Chance, Ökonomie und Ökologie zu verbinden, nicht verpassen.“ Sein Wort fand Gehör. Nach einigem Zögern und heftigen inneren Kämpfen nahmen die Stadtwerke den Ball auf und legten neue Berechnungen und Ausbaupläne vor.

Während der „Vor-Ort-Beratungen“ konnte nun auch für den Anschluß an Nah-/Fernwärmesysteme geworben werden. Um keine unnötige Konkurrenz zwischen der Versorgung mit Nah-/ Fernwärme und Gas aufkommen zu lassen, gaben die Stadtwerke bekannt, daß in den ausgewiesenen Nah-/Fernwärme- Vorranggebieten neue Gasanschlüsse nur noch für Kochzwecke, nicht aber zur Raumheizung vergeben werden.

14. Februar 2013

Ich stoße auf einen Pressebericht aus dem Spätsommer 1993.

Wirtschaftssenator J. A. Rege (FDP) gab bekannt, daß im Rahmen des wirtschaftspolitischen Sonderprogramms „Energieinnovationen“ sich zwei neue Firmen, die WÄRMEDÄMM AG und die FA. NORDSOLAR in Bremen ansiedeln werden. Die WÄRMEDÄMM AG werde aus dem in Altpapier enthaltenem Zellstoff hoch-wertiges Dämmaterial zur energetischen Gebäudesanierung herstellen und die NORDSOLAR wolle gemeinsam mit der Firma Krupp-Atlas-Electronic Solartechniken speziell für nördliche Regionen entwickeln, herstellen und vertreiben. In einem Gemeinschaftsprojekt mit den stadtbremischen Baugesellschaften und der Stadtwerke Bremen AG werde bereits ab 1994 das von der EG und dem Bundesministerium für Forschung und Technologie geförderte Projekt „Warmes Wasser vom Dach“ auf 500 Bremer Dächern installiert werden. Der Bremische Senat sei stolz, daß Bremen die Stadt sei, in der die thermische Nutzung der Solarenergie erstmals großflächig unter Realbedingungen erprobt werden könne.

15. Februar 2013

Heute stieß ich zufällig auf eine Überschrift des SPIEGEL vom

6. Dezember 1993: „Bremer Energiepioniere“.

Im Artikel wird berichtet, daß hundert bekannte Bremer und Bremerinnen, darunter der Präsident des Senats, die SenatorInnen für Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft, Umwelt und Kultur, Vertreter von Kirchen und Umweltschutzgruppen sowie der Trainer und mehrere Spieler des SV Werder Bremen sich auch persönlich in die Pflicht genommen haben. Unter dem Motto „Bremer sind Spitze ... auch bei der intelligenten Energienutzung“ ließen sie ihre Wohnhäuser von Energieexperten der Stadtwerke analysieren und Vorschläge zur energetischen Sanierung ihrer Haushalte unterbreiten.

Die Bremer Energiepioniere erklärten, daß sie die vorgeschlagenen Maßnahmen in absehbarer Zeit realisieren und damit auch ein persönliches Beispiel geben wollten. Sogar der New York Times galten die Bremer Energiepioniere als leuchtendes Beispiel für die ökologiebewußten „guten Deutschen“. Mittlerweile ist die Geschichte von den Bremer Energiepionieren den meisten Kindern in Europa bekannt und wird in den Kinderbüchern genauso häufig erzählt wie die von den Bremer Stadtmusikanten.

2o. Februar 2013

Im Herbst 1993 begannen bei den Stadtwerken organisatorische Umstrukturierungen zu greifen.

Die Mitarbeiterzeitschrift „GUT INFORMIERT“ berichtete, daß die Abteilungen „Strategisches Energiesparen“ und „Nah-/Fernwärme“ neu besetzt und als eigene Geschäftszweige direkt beim Vorstand angesiedelt worden sind. Dies bedeute eine längst überfällige Aufwertung dieser Aufgabenfelder. Willchon in unserem Gespräch:

„Es handelte sich um eine strategische, lang vorbereitete Weichenstellung. Denkhemmungen wurden abgelegt. Auch ich war sehr überrascht vom wachsenden Engagement und der Kreativität unserer Mitarbeiter. Die Arbeit machte uns allen mehr Spaß als je zuvor. Ökonomische und ökologische Bewertungen technischer und organisatorischer Alternativen konnten plötzlich umfassend, kompetent und offen diskutiert werden. Wir wurden im wahrsten Sinne des Wortes ein offenes, ein wirklich öffentliches Unternehmen, das seine Mitar

beiterInnen und die interessierte Öffentlichkeit einlud, Sachverstand und Kreativität bei allen wichtigen Entscheidungen einzubringen.

21. Februar 2013

In einer Eintragung des Umweltsenators in sein Tagebuch vom Frühjahr 1994 finde ich folgende Sätze:

„Heute wurde die Vorlage unseres CO2-Reduktionsprogramms im Senat verabschiedet. Die Bürgerschaft wird sich nächste Woche damit befassen. Das Bremer Energieinstitut hat gute Arbeit geleistet. Zusammen mit den Stadtwerken und dem Bremer Progress-Institut für Wirtschaftsforschung sind nun aktuelle Strategien entwickelt, wie der Anstieg der CO2- Emissionen bis zum Jahr 2013 gestoppt und – je nach Variante – um 38 bis 48% gesenkt werden kann. Die Nutzung des Gichtgases der Klöckner-Hütte ist darin noch nicht enthalten. Wir sind auf dem richtigen Weg.“

22. Februar 2013

Auf der Grundlage des „Bremischen Energiepakts“ konnten die nächsten Schritte unternommen werden.

In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verfügten die Stadtwerke Bremen AG bekanntlich über einen Kraftwerkspark, der weit mehr Strom erzeugen konnte als die immer sparsamer werdenden Kunden im Stadtgebiet Bremen benötigten. Dieser Überhang drückte in den 8oer und frühen 9oer Jahre auf die Bilanzen und führte zu nur bescheidenen Betriebsergebnissen. Das sollte sich ändern. Denn technisch war es ohne weiteres möglich, mit dem in Bremen preisgünstig herzustellenden Strom die umliegenden Gemeinden und Kreise zu beliefern. Als dort die Konzessionsverträge ausliefen (zum Beispiel im Landkreis Verden 1994), fragten diese in Bremen an, zu welchen Konditionen die Stadtwerke Strom liefern und die Gemeinden beim Bau eigener Blockheizkraftwerke unterstützen könnten.

Dies war für alle Beteiligten eine große ökologische und ökonomische Chance. Auf der Grundlage unausgelasteter Kraftwerke, eines hohen Kontingentes an billiger Importkohle und ihres neuerworbenen Ansehens auf dem Feld der Energiesparberatung waren die Stadtwerke Bremen in der Lage, günstige Verträge anzubieten. Selbst der Atomstromgigant PREAG mußte zugestehen, daß Strom, der in Bremen und in den anderen Gemeinden kraftwärmegekoppelt erzeugt wird, langfristig unschlagbar wirtschaftlich sein werde.

Als im Jahre 2oo1 der von den Umweltgruppen als CO2- Schleuder bezeichnete Block 5 im Hafen vom Netz genommen wurde, hatten die Stadtwerke Bremen und die mit ihnen verbundenen Stadtwerke der umliegenden niedersächsischen Gemeinden durch „Einsparkraftwerke“, Kraftwärmekoppelungsanlagen und regenerative Energietechniken genügend Ersatzkapazitäten aufgebaut, so daß auf die Errichtung eines neuen großen Kraftwerks im Hafen verzichtet werden konnte.

25. Februar 2013

1994 ließ der „Beinahe-GAU“ im Atomkraftwerk Biblis alle Träume der Atomlobby, eine neue Akzeptanz für Kernkraftwerke herbeiführen zu können, endgültig platzen.

Als dann 1995 auch noch der „Zweite Kuwaitische Krieg“ ausbrach und weltweit die Ölversorgung beeinträchtigte, ein Jahr später aus wirtschaftlicher Not Rußland die Gaspreise erhöhte und wieder ein Jahr später die Bergleute in den Kohleminen Südafrikas und Kolumbiens für bessere Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne streikten, erreichten die Energiepreise einen historischen Höchststand. Politikerinnen und Politikern, die sich in Bremen frühzeitig für strategisches Energiesparen und effiziente Energietechniken engagiert hatten, konnten bei den Bürgerschaftswahlen 1995 von ihrer Voraussicht profitieren.

27. Februar 2013

Im Pressearchiv fand ich heute folgenden Bericht:

„CO2-Emissionen in Bremen um 40 % vermindert! Ökologische Energiepolitik auch wirtschaftlich erfolgreich“

(Wirtschaftswoche vom 28. April 2012).

28. Februar 2013

Die Erfolge des bremischen Energiepakts haben mich sehr beeindruckt. Wieder hat sich gezeigt, daß ökologische Innovationen ökonomisch gestaltet werden können.

Mit leichter Wehmut breche ich heute meine Zelte in der Freien Hansestadt Bremen ab und fahre zurück, um der Präsidentin Europas Bericht zu erstatten. Ich werde vorschlagen, Bremen in diesem Jahr mit dem „Europäischen Preis für ökologisches Wirtschaften“ auszuzeichnen...

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