Wand und Boden
: Im metaphysischen Sinne animiert

■ Kunst in Berlin jetzt: Ueli Etter, Miguel Rio Branco in „Klima Global“, „Privatsammlung Berlin“

Die Anordnung in vier Bahnen darf wohl als kleinräumige Ersatzlösung für einen Fries gelten, denn Ueli Etters „Höhere Geschlechtskunde“ ist eine Arbeit, an der das Auge entlanggleitet, um dann zurückzuschweifen. Im umgekehrten Scherenschnitt (weiß auf schwarz) malt Etter Figuren, die sich ähneln, aber nicht gleichen. Gezeigt werden Frauen, die – allein oder in Gruppen von zweien und dreien – einer männlichen Figur beim Pinkeln (rechte Wand) bzw. beim Kacken (Wand gegenüber) zuschauen. In einigen Bildern tragen die weiblichen Figuren automatische Waffen, obgleich sie sonst nackt zu sein scheinen, wie auch der Mann. Das 20teilige Gemälde von insgesamt etwa 27 m Länge bietet sich als „stabiler Witz“ dar; Sisyphusarbeit für Strukturalisten. Der karikaturistische Entwurf wird durch die Klassizität der Figuren konterkariert, die Klassizität der Figuren durch die Nachlässigkeit im Malerischen. Die Figuren könnten raffinierter gearbeitet sein, die Keilrahmen besser gebaut. Hier liegt offenbar nicht Etters Ehrgeiz. Die Arbeit hat etwas von „Kriki veralbert Via Lewandowsky, nachdem er die Fotogramme von Neusüss gesehen hat“.

Warum Ueli Etter die Figurenkonstellationen auf mindestens elferlei verschiedenen Längsformaten (gleicher Höhe) präsentiert, bleibt ein Rätsel. Die Preisliste allerdings ist leicht zu entschlüsseln: pro Figur 400 Mark, und die beiden schwarzen Zwischenstücke, die nicht bevölkert sind, haben keinen Preis. Es handelt sich also, aus geschäftlicher Sicht, nicht um abstrakte Malerei. Was wir uns allerdings schon vorher gedacht hatten.

Galerie Zwinger, Dresdner Straße 125. Bis 10.4., Mi.-Fr. 15-19, Sa.11-14 Uhr.

Diese Mischung aus Popularismus und Elitekunst, Auf- und Verklärung, Kunst und Politik – untauglich für eine Ausstellung selbst in einer homogenen Halle; im dreistöckigen Schaufenster der Staatlichen Kunsthalle gegenüber der Bayerischen Vereinsbank nicht viel mehr als ein Beispiel für einen Fall, der gerade abgewickelt wird: „Klima Global“.

Eine Installation allerdings schafft es mühelos, sich gegen den ihr zugewiesenen Platz durchzusetzen. Es ist Miguel Rio Brancos Dia-Installation „Sob as estrelas, sob as cinzas (Unter den Sternen, unter der Asche)“ am Kopfende des ersten Stockwerks. Durch eine Lichtschleuse tritt man ein. In V-Form fliehend, wehen sanft zwei große Gazetücher, auf die die Bilder projiziert werden. Groteskerweise steht in der Mitte ein Pfeiler, so daß es nur einen Sitzplatz gibt, von dem aus man beide Hälften der Präsentation mühelos erfassen kann.

Wechselt man allerdings auf die andere Seite des Raums, sind die Fotografien gegen das Licht der Projektoren zugleich düsterer und leuchtender zu sehen: schwelendes Erdreich, Gleise, Badende, Schlachtung; wenige Gesichter; eine Mutter, die einem Baby die Brust gibt; rituelle Tänzer in Bahia (tatsächlich kennt man zwei Motive von Paul Simons Album). Dazwischen, in bläulichem Schwarzweiß, die Bilder von Toten, offenbar Medienzitat.

In Intervallen bestimmte Motive mal auf der einen Fläche, mal auf der anderen wiederholend, gelingt es Rio Branco, eine komplexe Struktur des Zeitgefühls zu flechten, in dem das Metaphorische der Bilder stärker wird und dann, zugunsten des Konkreten, wieder zurückweicht. Auch werden die Möglichkeiten der schnellen, assoziativen Schaltung mit einem nachdrücklichen Verweilen effektiv kombiniert; es gibt weiche und harte Übergänge (was möglich ist, weil jede der Flächen über zwei Projektoren bespielt wird). In der fließenden, konstanten Bewegung der Gazetücher wird alles, Dinge und Menschen, im metaphysischen Sinn des Wortes animiert. Aus einem begrenzten Fundus schöpfend, zeigt sich diese ferne Welt als vertrautes Rätsel. Raffiniert die Unmöglichkeit des Authentischen beschwörend, läßt der Künstler aus der einen Hälfte des Raumes experimentelle Rockmusik erklingen, aus der anderen antwortet in erhabenen Arien die italienische Oper. Eine Installation von dieser Genauigkeit und (scheinbar) Schlichtheit hätte der Hamburger Mediale gut getan; in der Ausstellung „Feuer, Wasser, Erde, Luft“ könnte Rio Branco in allen Sparten konkurrieren.

Miguel Rio Branco: Unter den Sternen, unter der Asche – Diainstallation in: „Klima Global. Arte Amazonas“. Budapester Straße 42-46. Bis 25.4., Di., Do.-So. 10-18, Mi.10-22 Uhr.

Die Praxis war gut gefegt. An einer Wand waren noch die Bleistiftspuren einer mißglückten Hängung zu sehen, dafür an allen anderen Wänden Bilder. Wie sie da so strahlten, bekam Frau Dr. Schauer plötzlich einen Schreck, weil sie merkte, daß die Neonbeleuchtung ihrer Praxis sehr wuchtig war. Gelegentlich, dachte sie, müßte hier Abhilfe geschaffen werden. Aber da kamen schon die ersten Gratulanten.

Nicht alle Gäste, die geladen waren, verstanden sofort, warum dieser Maler einzigartig sei, und manche äußerten routinierte Zweifel, ob das Werk überhaupt von einem Pinsel komme. Das wiederum konnte das Ehepaar B. bestätigen, das für die Bilder ein Vermögen bezahlt hatte und sie bang und stolz an die Praxis Schauer verliehen hatte, um in der kleinen Festschrift als „Privatsammlung Berlin“ bescheiden Erwähnung zu finden. Ein ehemals „wilder“ Maler, aus einer Laune vorbeigekommen, sah in einem kleinen, verwaschen realistischen Bild „Wilhelmshaven“ von 1969 seine Heimatstadt in den Schmutz gezogen, die älteren Herren aus der abstrakten Schule rätselten über die seltsame Schürftechnik der neuesten großen Bilder, und ein Herr vom BMW-Aufsichtsrat erkundigte sich mit bereits verzeihender Geste, es handele sich doch nicht um jenen Kölner Maler, der die Leichen der Baader- Meinhof-Bande verewigt habe? Während sie an ihrem Drink nippte, wischte die Leihgeberin den Gedanken aus ihrem Kopf, daß der leichte Fußschweißgeruch der Praxis sich in den Bildern festsetzen könnte, bevor sie nach dem 10. April in ihr Palais zurückkehren würden.

Gerhard Richter: „Ausschnitt. 20 Bilder von 1965-1991“. Neuer Berliner Kunstverein, Kurfürstendamm 58. Mo./Fr. 12-18.30, Di./Do. 12-20, Sa.11-16 Uhr.

Ulf Erdmann Ziegler